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Sawsan Chebli: »Überwiegend kommt der Hass von Männern«

Die Sozialdemokratin Sawsan Chebli war in den sozialen Medien vielen Shitstorms ausgesetzt. Verstummt ist sie deshalb nicht

  • Interview: Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 10 Min.

Frau Chebli, im Internet schlägt Ihnen jeden Tag Hass und Hetze entgegen. Sie erhalten auch Morddrohungen. Haben Sie Angst?

Nein, ich habe keine Angst. Ich würde aber sagen, dass ich heute weniger entspannt durch meine Heimatstadt Berlin laufe. Seit ich einmal mitten am Tag von einem Mann körperlich angegriffen wurde, schaue ich häufiger über die Schulter, trage selten beide Kopfhörer, um mitzubekommen, wenn sich jemand nähert und schicke der Familie immer einen Live-Standort, wenn ich abends unterwegs bin.

Interview

Sawsan Chebli wurde am 26. Juli 1978 in West-Berlin als zwölftes von dreizehn Kindern einer geflüchteten palästinensischen Familie geboren. Ihr Vater wurde zwei Mal in den Libanon abgeschoben, kehrte jedoch immer wieder nach Deutschland zurück. Deutsch lernte Chebli erst in der Grundschule, die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt sie mit 15 Jahren. Chebli studierte Politik und trat 2001 in die SPD ein. 2010 wurde die Muslimin Grundsatzreferentin für interkulturelle Angelegenheiten in der Berliner Senatsverwaltung. 2014 holte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier sie als stellvertretende Sprecherin ins Auswärtige Amt. Von 2016 bis 2021 war sie Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales in der Berliner Senatskanzlei. Chebli ist verheiratet, Mutter eines Sohnes und lebt in Berlin. Zusammen mit Miriam Stein hat sie ein Buch geschrieben: »Laut. Warum Hate Speech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können«. Es erscheint am 29. März im Goldmann Verlag.

Wer hat Sie auf der Straße angegriffen?

Ein kahlköpfiger, tätowierter Mann schubste mich und sagte, ich solle mich aus Deutschland »verpissen«. Wenige Minuten später fuhr eine Frau auf einem Fahrrad ganz dicht an mir vorbei und brüllte: »Hören Sie auf! Hauen Sie ab, Frau Chebli.« Ich hatte das Gefühl, dass die beiden sich verabredet hatten.

Wenige Monate nachdem Sie angegriffen wurden, wurde CDU-Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Rechtsextremisten erschossen. Weil er sich für Geflüchtete und gegen die islamophobe Pegida-Bewegung einsetzte, hatte er seit 2015 Morddrohungen erhalten. Was hat der Mord an Walter Lübcke mit Ihnen gemacht?

Der Mord an Walter Lübcke war ein Erdbeben. Auch mich hat er erschüttert. Spätestens hier wurde uns allen auf brutale Weise vor Augen geführt, dass Hass töten kann.

Zum Interview sind Sie alleine gekommen. Brauchen Sie keinen Polizeischutz mehr?

Ich bitte um Verständnis, dass ich mich dazu aus Sicherheitsgründen nicht äußern kann.

Hat Ihre Familie Angst um Sie?

Meine Familie wünscht sich, dass ich meinen Twitter-Account stilllege und mich nicht mehr so sehr in gesellschaftspolitische Themen einmische.

Hören Sie auf Ihre Familie?

In diesem Fall nicht. Ich habe erlebt, wie es ist, keine Stimme zu haben, Schikanen eines politischen Systems ausgesetzt zu sein, entmenschlicht und der Würde beraubt zu werden. Als ich gerade mal fünf Jahre alt war, musste ich meinen Vater in der Abschiebehaft besuchen. Er wurde aus Deutschland abgeschoben, war ein Jahr nicht bei uns, und wir konnten nichts dagegen tun. Ich habe mir geschworen, niemals zu schweigen, wenn ich Unrecht sehe.

Welche Form von digitaler Gewalt erleben Sie?

Da ist alles dabei, von Morddrohungen bis hin zu Rassismus, Sexismus und Islamfeindlichkeit, häufig kombiniert mit gezieltem Aberkennen von jeglichem Können. Das hat übrigens System. Denn mit dem Aberkennen von Können wird die Erzählung von der »unqualifizierten Person«, die von unseren Steuergeldern ernährt wird, weitergeführt, Hass gegen Politiker*innen geschürt und gespalten. Das ist brandgefährlich.

Wie oft kommt dieser Hass von Männern?

Überwiegend kommt er von Männern, würde ich sagen.

Geben die Hater sich mit ihren echten Namen zu erkennen?

Viel häufiger, als man erwarten würde. Sie fühlen sich offenbar so sicher, dass sie ihrem Hass ohne Furcht vor Konsequenzen freien Lauf lassen. Das macht mir Sorgen. Eigentlich müsste es doch anders herum sein, eigentlich müsste ich mich sicher und vom Rechtsstaat geschützt fühlen – und nicht sie. Digitale Gewalt wird leider immer noch zu oft als Bagatelle gesehen, zu oft laufen Verfahren ins Leere und zu oft werden Hass und Hetze von der Meinungsfreiheit geschützt.

Welche Rolle spielt Ihre Religion, wenn Sie angegriffen werden?

Eine entscheidende. Studien belegen, dass die Gefahr, Anfeindungen ausgesetzt zu werden, sich bei bestimmten Attributen potenziert. Eine Frau bekommt mehr Hass ab als ein Mann. Eine nichtweiße Frau bekommt mehr Hass ab als eine weiße Frau. Eine Muslima noch mehr und eine Muslima mit Kopftuch noch viel, viel mehr. Ich trage zwar kein Kopftuch, bekenne mich aber bewusst zum Islam. Studien belegen, dass antimuslimische Ressentiments weit in die Mitte unserer Gesellschaft reichen. Laut der Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration aus dem Jahr 2022 sagt ein Drittel der Befragten, dass sie es gern sehen würden, wenn die Ausübung des Islams eingeschränkt wird. Das heißt nichts anderes als: Religionsfreiheit ja, aber nicht für Muslime. Das ist krass.

Hat Deutschland ein Rassismus-Problem?

Ja, auch wenn wir uns wegen unserer NS-Vergangenheit oft schwer damit getan haben, das einzugestehen. Der Mord an Walter Lübcke war für viele, die das vorher nicht wahrhaben wollten, ein Weckruf.

Wie viele Shitstorms haben Sie schon erlebt?

Ich habe irgendwann aufgehört, die Shitstorms zu zählen. Aber es waren viele.

Wissen Sie vorher, welche Ihrer Tweets einen Shitstorm auslösen werden?

Ich habe zumindest noch nie bewusst einen Shitstorm provoziert.

Wirklich nicht?

Wirklich nicht! Als ich zum Beispiel nach der Berlin-Wahl getwittert habe, dass den Leuten die hässlichen, rassistischen Ausfälle der CDU als Reaktion auf die Ausschreitungen in der Silvesternacht in Berlin total egal sind, hätte ich nicht gedacht, dass das einen solchen Sturm der Entrüstung auslösen würde. Mir wurde dann aber vorgeworfen, ich hätte alle CDU-Wähler*innen zu Rassist*innen erklärt. Das ist so absurd. Zeigt aber: Der Name »Chebli« triggert.

Lesen Sie alles, was im Internet über Sie geschrieben wird?

Nein. Das wäre toxisch.

Die Proteste im Iran und andere Aufstände und Freiheitsbewegungen wären ohne soziale Medien nicht möglich gewesen. Auf der anderen Seite verbreiten Privatpersonen, Politiker wie Donald Trump und von demokratiefeindlichen Politikern bezahlte Trollfabriken und Agenturen so Fake-News, um Wahlen zu beeinflussen und gewählte Regierungen zu schwächen. Stärken oder schwächen Twitter und andere soziale Medien die Demokratie?

Die Zukunft der Demokratie – ob es uns gefällt oder nicht – wird im Internet verhandelt. Schon jetzt tauscht sich die Hälfte der Menschheit im Schnitt zweieinhalb Stunden am Tag über die sozialen Medien aus. Und wir wissen, dass rechte Kräfte das Internet viel erfolgreicher nutzen als wir Demokrat*innen. Sie haben den Raum früh erobert, können ihn viel besser nutzen und entsprechend wesentlich effizienter in ihm agitieren.

Das klingt nicht gut …

Auf der anderen Seite haben soziale Medien eine große positive Wirkungsmacht. Ohne Twitter und die sozialen Medien würden wir hier in Deutschland wahrscheinlich wenig mitbekommen von den Frauen und Männern, die im Iran für Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung kämpfen. Der Arabische Frühling wäre ohne Facebook nie so wirkmächtig geworden. Viele weitere teilweise weltweite Protestbewegungen sind durch soziale Medien erst groß geworden. Die sozialen Netzwerke bergen eine gigantische demokratische Macht, aber auch ein gigantisches zerstörerisches Potenzial.

Ex-Facebook-Mitarbeiterin Frances Haugen sagte 2021 vor dem US-Senat aus: »Ich habe gesehen, dass Facebook immer wieder in Konflikte zwischen seinen eigenen Gewinnen und unserer Sicherheit geriet. Facebook löste diese Konflikte stets zugunsten seiner eigenen Gewinne. Das Ergebnis war ein System, das Spaltung, Extremismus und Polarisierung verstärkt – und Gesellschaften auf der ganzen Welt untergräbt.«

Ja, das ist erschütternd. Hass generiert Traffic und dieser maximiert den Gewinn. Zwar sagen die Plattformen immer: Wir haben kein Interesse an Hass, denn niemand will Werbung neben Hass platzieren. Aber das nehme ich ihnen nicht ab. Sie wollen möglichst viel Traffic und nehmen Hass dafür in Kauf. Dazu gibt es inzwischen etliche Erkenntnisse.

Da die Plattformen so wenig machen. Was muss die Politik unternehmen?

Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist ein wichtiger Schritt zur Regulierung von Social-Media-Plattformen und zur Bekämpfung von Hass im Netz getan worden. Aber es fehlt an der konsequenten Umsetzung. Das liegt auch daran, dass unsere Staatsanwaltschaften mit dem Thema oft überfordert sind. Wir brauchen dringend mehr Sensibilisierung in der Justiz, aber auch bei der Polizei.

Und was muss jeder einzelne Nutzer tun?

Ich würde mir wünschen, dass Menschen ihr Verhalten in den sozialen Medien reflektieren und erkennen, dass der Hass gegen einzelne nicht alleine die Betroffenen etwas angeht. Er geht uns alle etwas an. Es geht um unsere Demokratie, um unser Zusammenleben, um unser aller Sicherheit, um unser aller Leben. Mein Buch ist ein Aufruf an die Zivilgesellschaft, die Beobachterrolle zu verlassen, die Seitenlinie zu überqueren und sich auf das Feld, in dem Fall ins Netz, zu beigegeben. Wir müssen laut sein, einschreiten und Zivilcourage zeigen. Wenn auf der Straße jemand verprügelt wird, guckt man ja normalerweise auch nicht weg, sondern schreitet ein oder ruft zumindest die Polizei. Nicht ohne Grund gibt es den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung. Aber leider ist die Realität im Netz oft anders.

In Ihrem Buch schreiben Sie: »Zusammen werden wir den Hass besiegen.« Ist das Autosuggestion oder glauben Sie das wirklich?

Das ist mein Wunsch. Und ich bin mir sicher, dass, wenn wir mehr werden, die anderen uns nicht mehr so leicht übertönen können und damit ein großer Schritt getan wäre.

Als Sie noch stellvertretende Sprecherin von Außenminister Steinmeier waren, haben sich Mitarbeiter in der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« über Ihren Führungsstil beschwert. Sie warfen Ihnen unter anderem vor, dass Sie sie »wie Dreck behandelt« hätten. Haben Sie im Auswärtigen Amt die Freundlichkeit, die Sie für die sozialen Medien einfordern, selbst nicht an den Tag gelegt?

Ich kenne diese Erzählungen und sie verletzen mich. Bin ich perfekt? Natürlich nicht. Mache ich Fehler? Mit Sicherheit. Aber ich weiß natürlich auch: Als Person im öffentlichen Leben hat man wenig Einfluss auf die Art der Kritik, der man ausgesetzt ist, besonders, wenn sie anonym ausgedrückt wird.

Nach Ihrer Zeit im Auswärtigen Amt wurden Sie Bevollmächtigte des Landes Berlin und Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales in der Berliner Senatskanzlei. Den Job haben Sie bis Dezember 2021 gemacht. Was machen Sie jetzt eigentlich – wenn Sie nicht gerade twittern?

Bis vor kurzem habe ich mein Buch über digitale Gewalt im Internet geschrieben. Zudem bin ich ehrenamtlich in internationalen Stiftungen und Organisationen aktiv, zum Beispiel bei Global Citizen, einer Kampagnenorganisation, die sich für die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele einsetzt. Ich bin im Advisory Board vom Center for Feminist Foreign Policy, ich bin Co-Vorsitzende eines Vereins, der sich mit ehrenamtlichen Paten dafür stark macht, dass unsere Kinder eine bessere Chance haben, im Leben zu bestehen, indem die Paten den Kindern in der Kita die deutsche Sprache beibringen. Ich bin im Präsidium der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, und vor kurzem habe ich mit einigen Frauen ein Frauennetzwerk in der Atlantik-Brücke gegründet, das sich für die transatlantischen Beziehungen starkmacht. Langweilig ist mir nicht.

Aber eigentlich wären Sie lieber Bundestagsabgeordnete, oder? Bei der Bundestagswahl 2021 wollten Sie als Direktkandidatin im Wahlkreis Berlin-Charlottenburg-Wilmersdorf kandidieren, unterlagen aber bei der parteiinternen Vorwahl gegen Michael Müller, den ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, einem Ihrer ehemaligen Förderer.

Das habe ich damals tatsächlich als Niederlage wahrgenommen, trotz des guten Ergebnisses (Michael Müller erzielte 58,4 Prozent, Sawsan Chebli 40,2 Prozent der Stimmen, Anm. d. Red.). Dies hat mir gezeigt, dass viele Leute scheinbar von meinem politischen Konzept und meinen politischen Antworten überzeugt sind. Mein Leben sähe heute jedenfalls anders aus, säße ich im Bundestag.

Besser?

Ich bin heute freier.

Was machen Sie neben Ihrem ehrenamtlichen Engagement?

Ich bin selbstständig. Es macht mir Spaß, unabhängig zu arbeiten und niemanden fragen zu müssen: Darf ich dieses Interview geben? Darf ich dies oder jenes sagen? Darf ich diesen Termin wahrnehmen? Kann ich auf diesem Podium sitzen? Ich kann einfach machen, worauf ich Lust habe. Ich genieße es sehr, keinen politischen Zwängen zu unterliegen.

Klingt so, als hätten Sie sich gegen eine politische Karriere entschieden.

Politik ist und bleibt mein Leben.

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