Ukraine-Krieg: Warten auf den Angriff

Kiews Pläne zur Zurückdrängung der russischen Aggressoren sind weiter unklar

  • René Heilig
  • Lesedauer: 5 Min.

An Spekulationen über das Ausbleiben der ukrainischen Offensive will sich der Chef des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Oleksij Danilow, nicht beteiligen. Er behauptet: Nur fünf Personen wüssten darüber Bescheid und so solle es bleiben.

Ganz öffentlich dagegen ist eine Verlautbarung der russischen Verwaltungsbehörden auf der Krim und der sogenannten Heldenstadt Sewastopol. Dort sind alle Demonstrationen zum 1. Mai abgesagt. Auch werde es, sagte Moskaus Statthalter Sergej Aksjonow in der vergangenen Woche, am 9. Mai, dem Jahrestag des Sieges über die Hitlerfaschisten, keine Militärparade geben. Der Grund? Sicherheitserwägungen! In den Regionen Kursk und Belgorod gibt es ebensolche Absagen. Putins Sprecher, Dmitri Peskow, hält sich raus: Das sei Sache der dortigen Behörden. Wie auch immer – die Nachrichten sind ein Eingeständnis eigenen Unvermögens. Statt als Zeichen der vollendeten »Entnazifizierung« Truppen durch Kiew paradieren zu lassen, muss Russland für das Selbstbewusstsein wichtige Zurschaustellungen seiner Stärke absagen.

Am Dienstag präsentierte das Staatsfernsehen Bilder von Wladimir Putin, die ihn mit Offizieren in den annektierten Gebieten Cherson und Luhansk zeigen. Ob die Aufnahmen von Putins erstem Besuch in Russlands »neuen Gebieten« wirklich von Montag stammen, wie behauptet, zweifeln viele an.

Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht

Die russische Invasion hat sich zu einem blutigen Konflikt entwickelt, der nun schon weit über 400 Tage dauert. Die Prognosen über das wahrscheinliche Ende des Krieges haben sich mehrfach gewandelt. Ging man zunächst von einer raschen Niederlage des angegriffenen Landes aus, so reden Propagandisten nun schon von einem unmittelbar bevorstehenden Triumph der Ukraine, denn: Kiews Generäle haben eine große Gegenoffensive geplant und der Westen stellte dafür zahlreiche hochmoderne Waffensysteme zur Verfügung.

Noch jedoch ist man weit entfernt von dem, was man an Kriegsakademien über hochmobile Gefechte verbundener Waffen lehrt. Vor allem im Osten gibt es einen hochintensiven Stellungskrieg. Falls es in Moskau überhaupt Pläne zu einer Offensive gab, so sind sie nicht einmal im Ansatz erkennbar. Im Gegenteil. Satellitenfotos zeigen, dass Putins Armee vor allem im südöstlichen Gebiet Saporischschja ein tief gestaffeltes Verteidigungssystem, Schützen- und Panzergräben samt Minenfeldern, aufbaut. Moskaus Generalstäbler gehen offenbar davon aus, dass die ukrainische Armee die von Russland besetzte Krim angreifen, zumindest aber vom russischen Hinterland abschneiden will.

Beide Seiten brauchen Truppen und Material

Falls diese Annahme stimmt, hängt Russlands Abwehrerfolg davon ab, ob es gelingt, die Stellungen mit ausreichend Truppen samt frischem Material zu besetzen. Die ukrainische Armee wiederum muss sich Gedanken darüber machen, wie sie beim Angriff Richtung Süden die natürlichen und die künstlich geschaffenen Hindernisse überwindet. Die Wirkung eines durch »Marder« verstärkten »Leopard«-Panzerbataillons mag gewaltig sein – wenn es jedoch nicht gelingt, entsprechende Brückentechnik in die Gefechte einzuführen, sind die aus Deutschland gelieferten 60 Tonnen schweren »Leo«-Stahlkolosse rasch ein Opfer von Artillerie- und Luftangriffen. Ob Kiews Piloten in der Lage sind, die Truppen zuverlässig zu decken, ist ebenso ungewiss wie das Potenzial der russischen Luftwaffe, die bislang weitgehend untätig ist.

»Die Krim ist unser Land, unser Territorium«, erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seit Jahresbeginn immer wieder. Er unterstrich damit die Entschlossenheit der Ukraine, die Besetzung der Halbinsel durch Russland rückgängig zu machen. So steht der Präsident im Wort. Laut Umfragen vertrauen die Ukrainer ihrer Armee und glauben an die Rückeroberung der besetzten Gebiete.

Kiew hat viele Freiwillige

Dazu braucht es aber noch so einiges. Zwar hört man, dass Kiew aktuell (so wie Moskau) den immensen Verbrauch von Artilleriemunition reduziert, um ausreichend Reserven für die Offensive (oder deren Abwehr) zu haben. Dennoch übertrifft der monatliche Verbrauch der ukrainischen Artilleristen weiter die Liefermöglichkeiten des Westens. Vor allem spürbar ist der Mangel an Munition für sowjetische Waffen, die noch immer die Mehrheit der Ausrüstung ausmachen. Nicht minder entscheidend ist, ob Kiew genügend schlagkräftige Einheiten formieren kann. Stimmen US-Geheimdiensteinschätzungen, so wurden seit Beginn der russischen Aggression zwischen 124 000 und 131 000 ukrainische Soldaten getötet oder verwundet. Das ist mehr als das Fünffache dessen, was Kiew zugibt. Es fehlt (so wie in Russlands Streitkräften) an Berufssoldaten.

Noch scheint es genügend Freiwillige zu geben. Seit Anfang Februar sollen sich mehr als 5000 patriotisch Gesinnte beim Asow-Bataillon beworben haben. Die Rechtsaußenmiliz ist Teil der Nationalgarde und soll zu einer Angriffsbrigade der geplanten Offensive formiert werden. Vollwertige Soldaten sind die Asow-Kämpfer – ebenso wie die Wagner-Söldner auf der gegnerischen Seite – kaum.

Krim könnte abgeschnitten werden

Klar dürfte sein, dass die Ukraine aktuell nicht über die militärischen Fähigkeiten verfügt, um die Krim zurückzuerobern. Wohl aber könnte Kiew die Halbinsel – und damit für den Nachschub wichtige Stützpunkte – blockieren. Dazu braucht es nicht viel. Mit Drohnenangriffen und Minensperren könnten russische Kriegs- und Handelsschiffe in Sewastopol »eingesperrt« werden. Auch die Krimbrücke hat Schwachstellen, wie die Explosion eines Lkw im vergangenen Oktober gezeigt hat.

Natürlich würde Russland die Krim weiterhin auf dem Luftweg versorgen, könnte dann aber nur einen Bruchteil des benötigten Materials liefern. Und Landebahnen sowie Treibstoffdepots sind ein leichtes Ziel. Und irgendwann sitzen beide Seiten dann doch an einem Verhandlungstisch.

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