Verfahren gegen Lina E.: Kurzer Prozess von langer Dauer

Im Dresdner Verfahren gegen vier Antifaschisten um Lina E. wegen brutaler Überfälle auf Nazis verzögert sich das Urteil weiter

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.
Das Gerichtsgebäude in Dresden, in dem seit September 2022 der Prozess gegen die Gruppe um Lina E. stattfindet und das ihre Unterstützer regelmäßig besuchen, gleicht einem Hochsicherheitstrakt
Das Gerichtsgebäude in Dresden, in dem seit September 2022 der Prozess gegen die Gruppe um Lina E. stattfindet und das ihre Unterstützer regelmäßig besuchen, gleicht einem Hochsicherheitstrakt

Seit anderthalb Jahren wird der morgendliche Berufsverkehr in Dresden in der Regel zweimal wöchentlich von der Polizei ausgebremst: Kreuzungen werden gesperrt, Fahrzeugkolonnen zum Stillstand gebracht. Dann nähert sich von der Autobahn aus Richtung Chemnitz ein Konvoi von zwei Mannschaftswagen und einem Transporter, allesamt mit Blaulicht. Sie verschwinden im Hof eines Flachbaus, über dem ein Hubschrauber kreist und an dessen Eingang Besucher von Justizbeamten gründlichst gefilzt werden: Taschen müssen geleert und Schuhe ausgezogen werden, Körper werden abgetastet. In einem vom Oberlandesgericht Dresden genutzten Saal treffen, getrennt durch eine Wand aus Panzerglas, die Zuschauer und die Insassin des Transporters aufeinander: die 27-jährige Lina E., die stets freundlich ins Publikum winkt, das sich zu ihrer Begrüßung teils von den Plätzen erhebt.

Alle Umstände vermitteln den Eindruck, als sei sie eine höchst gefährliche Person. Als Lina E. im November 2021 in Leipzig verhaftet wurde, wo sie bis dahin studiert hatte, flog man sie im Helikopter zur Bundesanwaltschaft nach Karlsruhe, wo ihre Ankunft im Beisein schwer bewaffneter Polizisten medienwirksam inszeniert wurde. Seither sitzt sie in Chemnitz in Untersuchungshaft – fast zweieinhalb Jahre. All das erinnere an »eine Art Terrorverfahren«, sagte ihr Verteidiger Ulrich von Klinggräff diese Woche am mittlerweile 94. Verhandlungstag des Prozesses gegen Lina E. und drei Mitangeklagte, von dem alle Beteiligten annahmen, dass er kurz vor dem Ende stehe. Das stellte sich jedoch als Trugschluss heraus.

Die Bundesanwaltschaft, die das Verfahren an sich gezogen hat, hält die hohen Sicherheitsvorkehrungen und die lange Haft für gerechtfertigt. Sie wirft den vier Angeklagten vor, bei sechs Vorfällen in Leipzig, Wurzen und Eisenach tatsächliche und vermeintliche Nazis überfallen und brutal zusammengeschlagen zu haben. Zweimal wurde der Inhaber einer Nazikneipe angegriffen, einmal Teilnehmer eines Naziaufzugs, einmal ein Kanalarbeiter. Letzterer geriet wohl ins Visier, weil er eine Mütze eines rechten Szenelabels trug. Die massiven Gesichtsverletzungen, die er erlitt, lassen die Anklage von einer Straftat »in der Nähe eines Tötungsdelikts« sprechen.

Die Taten werden aber nicht nur als gefährliche Körperverletzung eingestuft, sondern als Angriff auf Grundpfeiler des Rechtsstaats. Angetrieben von einer »militanten antifaschistischen Ideologie«, hätten die vier und weitere Täter in Leipzig eine kriminelle Vereinigung nach Paragraf 129 des Strafgesetzbuches gebildet, das Gewaltmonopol des Staates ausgehebelt und den »friedlichen politischen Meinungskampf« als Grundelement freiheitlicher Demokratie infrage gestellt, sagte Bundesanwältin Franziska Geilhorn in ihrem Schlussplädoyer. Dass Lina E. schon vor dem Urteil mehrere Jahre im Gefängnis verbringen muss, begründet sie mit ihrer Rolle als angebliche Rädelsführerin und mit hoher Fluchtgefahr: Ihr Partner Johann G. ist seit zwei Jahren abgetaucht, ihre Beziehung wäre »in der Legalität nicht zu leben«, die Solidarität in der linken Szene sei groß. Diese stilisiert die Angeklagte mit dem Slogan »Free Lina« zur Symbolfigur.

Der Staat in Person von Bundesanwältin Geilhorn drängt darauf, mit den Angeklagten kurzen Prozess zu machen und in dem seit Jahren größten Verfahren gegen Mitglieder der militanten linken Szene drakonische Strafen zu verhängen: acht Jahre für die Hauptangeklagte, 33 bis 45 Monate für ihre Mitstreiter. Es solle offenbar »ein Exempel statuiert werden«, kritisierte Rita Belter, Verteidigerin eines Mitangeklagten. Sie und ihre Kollegen halten die Anwendung von Paragraf 129, mit dem eigentlich Delikte wie Menschen-, Waffen- und Rauschgifthandel durch die organisierte Kriminalität bekämpft werden sollen, für unzulässig. Sie monieren auch, viele der von den Ermittlern aufgestellten und von der Anklage übernommenen Szenarien zu einzelnen Taten beruhten auf Hypothesen und Mutmaßungen, die Beteiligung der Angeklagten sei oft nicht erwiesen.

Und schließlich halten sie auch die Strafforderungen für maßlos, besonders in Relation zu ähnlichen Vorwürfen gegen Nazis. Belter verweist auf Gruppierungen wie »Sturm 34« und »Skinheads Sächsische Schweiz«, paramilitärische Truppen, die in Sachsen »national befreite Zonen« errichten wollten. Ihre Mitglieder erhielten Bewährungsstrafen. Gleiches gelte für Angehörige der rechten Dresdner Hooligantruppe »Faust des Ostens«, die als kriminelle Vereinigung eingestuft wurde, oder Beteiligte des »Sturms auf Connewitz«, bei dem 250 Nazis 2016 ein linkes Szeneviertel in Leipzig überfielen. Sarkastisch fragte Belter: »Muss man ein Nazi sein, um Bewährung zu bekommen?«

Die Antwort hätten sich die Prozessbeteiligten für den 10. oder 17. Mai erhofft. Dann wollte der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats das Urteil sprechen. Doch nach Belters Plädoyer gab es eine jähe Wendung. Sie hatte erneut massive Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Szeneaussteigers Johannes D. geäußert, der als Kronzeuge gegen seine Ex-Mitstreiter ausgesagt hatte. Dabei berichtete er im Dresdner Prozess von Kampfsporttrainings, bei denen Szenarien für Überfälle trainiert worden sein sollen – laut Anklage ein Hauptbeleg für die kriminelle Vereinigung. In einem Prozess gegen ihn selbst im Februar in Meiningen habe D. die Trainings aber lediglich als gesellige Treffs dargestellt, sagte Belter. Schlüter-Staats unterbrach daraufhin die Plädoyers, stieg erneut in die Beweisaufnahme ein und zitierte einen Prozessbericht von der Seite der Unterstützerinitiative »Soli Antifa Ost«, der scheinbar die These der Anklage stützte. Belter & Co. beantragten daraufhin, dessen im Saal anwesenden Autor als Zeugen zu vernehmen. Dieser bekräftigte, D. habe in Meiningen ausgesagt, die Trainings hätten lediglich »Sport, Spaß und soziale Kontakte« zum Inhalt gehabt. Schlüter-Staats will nun weitere Zeugen aus Meiningen hören. Der Prozess geht weiter. Und im Dresdner Berufsverkehr kommt es weiter regelmäßig zu Behinderungen. 

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