Tarifabschluss: Reallohnverlust im Öffentlichen Dienst

Verdi einigt sich mit Bund und Kommunen auf neuen Tarifvertrag für öffentlich Beschäftigte

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 4 Min.

Die gute Nachricht für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Ländern: In diesem und nächsten Jahr dürfte ihr Lohnplus höher als die Inflationsrate sein, sie real also mehr Geld zur Verfügung haben. Schließlich einigten sich die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die öffentlichen Arbeitgeber am späten Samstagabend in Potsdam im Wesentlichen auf die Annahme der Schlichtungsempfehlung. Doch insgesamt sind die vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Preissteigerungen damit nicht ausgeglichen.

Die Tarifeinigung sieht eine steuer- und abgabenfreie Einmalzahlung im Juni von 1240 Euro vor, von Juli bis Februar 2024 sind es nochmal jeweils 220 Euro pro Monat. Damit wird das vom Bund selbst gesteckte Limit für solche steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen von 3000 Euro voll ausgeschöpft. Ab März 2024 steigen die tariflichen Entgelte dann um einen monatlichen Sockelbetrag von 200 Euro brutto sowie 5,5 Prozent. Mindestens sollen die Beschäftigten dadurch monatlich 340 Euro brutto mehr bekommen. Die Laufzeit des Tarifvertrages beträgt 24 Monate. Laut Verdi steigt damit zum Beispiel das Gehalt eine*r Erzieher*in, die derzeit 3979,52 Euro im Monat verdient, im März 2024 um 429,87 Euro beziehungsweise 10,8 Prozent.

Verdi war mit der Forderung nach 10,5 Prozent beziehungsweise mindestens 500 Euro monatlich mehr Gehalt bei einer Tariflaufzeit von zwölf Monaten in die Verhandlungen gegangen. Nachdem die Arbeitgeber in der dritten Verhandlungsrunde ein Lohnplus von acht Prozent beziehungsweise einen Mindestbetrag von 300 Euro jeweils aufgeteilt auf zwei Jahre sowie eine Inflationsausgleichssonderzahlung von 3000 Euro ins Spiel brachten, erklärte Verdi die Tarifverhandlungen zunächst für gescheitert. Daraufhin riefen die Arbeitgeber die Schlichtung an, über deren Spruch nun in der vierten Verhandlungsrunde verhandelt wurde. Verdi fordert nun die Übertragung des Tarifergebnisses zeit- und wirkungsgleich auf die Beamt*innen.

»Mit unserer Entscheidung, diesen Kompromiss einzugehen, sind wir an die Schmerzgrenze gegangen«, erklärte Verdi-Chef Frank Werneke nach der Einigung, die ihm zufolge die »größte Tarifsteigerung in der Nachkriegsgeschichte im öffentlichen Dienst« ist. Denn nicht nur der Abschluss ist historisch, sondern auch die derzeitige Inflation. Nachdem die Preise bereits im Jahr 2021 mit 3,1 Prozent ungewöhnlich schnell gestiegen sind, schnellte die Inflationsrate vergangenes Jahr aufgrund des russischen Angriffskrieges in der Ukraine auf 6,9 Prozent in die Höhe. Allein damit sind Waren und Dienstleistungen im Schnitt um ein Zehntel teurer als im Jahr 2020. Und die Inflation wird zumindest auch in diesem Jahr vermutlich mindestens fünf Prozent betragen.

Laut dem Tarifexperten Reinhard Bispinck bedeuten die steuer- und abgabenfreien Einmalzahlungen für die Beschäftigten in diesem Jahr ein Lohnplus im Schnitt von 6,1 Prozent. Die Kombination von Einmalzahlungen und den tabellenwirksamen Entgeltanhebungen wird demnach im nächsten Jahr ebenfalls zu einem Lohnplus von im Schnitt 6,1 Prozent führen, wobei die Lohnsteigerungen durch die Festgeldbeträge in den unteren Lohngruppen höher sein werden.

Geht man in diesem Jahr von einer Inflationsrate von fünf Prozent aus, dürften jedoch die dauerhaften Lohnsteigerungen in fast allen Tarifgruppen niedriger ausfallen als die gesamte Preissteigerung seit 2021. Lediglich in der niedrigsten Entgeltgruppe E1 liegt sie laut Bispincks Berechnungen mit 16,2 Prozent darüber. Im Schnitt geht der Tarifexperte von dauerhaften Lohnsteigerungen von 11,6 Prozent aus, Verdi kommt in eigenen Berechnungen auf 11 Prozent.

Laut Verdi-Chef Werneke hat die Einigung auch Schwächen. Dazu gehöre die lange Laufzeit und die relativ späte tabellenwirksame Erhöhung. Der geforderte Mindestbetrag sei mit den Arbeitgebern nicht machbar gewesen. So hätten auch viele höhere Berufsgruppen von dem geforderten Mindestbetrag von 500 Euro mehr profitiert als von der prozentualen Forderung nach 10,5 Prozent mehr Gehalt. So liegt zum Beispiel das Einstiegsgehalt in der Entgeltgruppe E13, das für angestellte Jurist*innen oder Beschäftigte mit abgeschlossener Hochschulbildung gilt, derzeit bei 4187,45 Euro brutto im Monat. Die geforderten 500 Euro Mindestbetrag hätten in diesem Fall also ein Lohnplus von 11,9 Prozent bedeutet.

»In der heutigen Verhandlung haben wir jedoch noch einige Verbesserungen gegenüber der Schlichtungsempfehlung erzielen können«, erklärte Werneke. So habe man die von den Arbeitgebern geforderten Sonderopfer für Beschäftigte im Gesundheitsbereich und bei den Sparkassen abgewehrt. Auch die bestehende Regelung zur Übernahme der Auszubildenden konnte verlängert werden.

Indes ist sich Werneke sicher, dass es ohne den Druck von der Straße nicht zu dieser Tarifeingung gekommen wäre. Seit Februar kam es immer wieder zu Warnstreiks. »Das große Engagement der Beschäftigten und die Warnstreiks, an denen sich eine halbe Million Beschäftigte in den Wochen vor der Schlichtung beteiligt haben, haben diese Einigung überhaupt erst möglich gemacht«, so der Verdi-Chef. Insbesondere die kommunalen Arbeitgeber seien wenig kompromissbereit gewesen. »Ohne den Druck unserer Mitglieder hätte es die nötige Bewegung in den Tarifverhandlungen nicht gegeben.«

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