»Unsere Erinnerungen und Erfahrungen sind Teil der urbanen Kultur«

Das Arabische Filmfestival beginnt in Berlin. Kurator Iskandar Abdalla spricht über den diesjährigen Schwerpunkt

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 6 Min.
Szene aus dem syrischen Film »Dreams of the City«, der im Spotlight des diesjährigen Arabischen Filmfestivals gezeigt wird.
Szene aus dem syrischen Film »Dreams of the City«, der im Spotlight des diesjährigen Arabischen Filmfestivals gezeigt wird.

Worum geht es im diesjährigen Festival-Spotlight?

Interview

Iskandar Abdalla wurde im ägyptischen Alexandria geboren und promoviert derzeit an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies (BGSMCS). In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem Islam in Europa, aber auch mit Themen, die Film und Kulturgeschichte der arabischen Welt betreffen. Studiert hat er Geschichte und Nahoststudien an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Seit 2015 arbeitet er beim Arabischen Filmfestival Berlin (ALFILM) mit und hat den diesjährigen Schwerpunkt »Ghosts, Griefs and Lost Dreams: Visions of the City in Arab Cinema« kuratiert.

Es geht um die Repräsentation der Stadt in klassischen und zeitgenössischen arabischen Filmproduktionen. Wir wollen uns dabei nicht mit der Frage der Identität der arabischen Stadt beschäftigen und nicht charakterisieren, wie sie aussieht oder aussehen soll. Das ist eine Frage, mit der sich Orientalist*innen und arabische Nationalist*innen beschäftigen – alle, die irgendwie von der Idee von Authentizität besessen sind. Unsere Herangehensweise ist, dass Städte Orte der Bewegung und Transformation sind. Sie werden zu Spannungsfeldern unterschiedlicher Visionen, die nicht immer in Einklang zu bringen sind.

Wir sprechen über Revolutionen und darüber, wie sie Städte verändert haben. Wir sprechen auch über unterschiedliche Erfahrungen und Machtkonstellationen. Zum Beispiel erleben Frauen Städte anders als Männer. Auch die arme städtische Bevölkerung macht andere Erfahrungen als die Mittelklasse, deren Stadtvisionen realisiert und zelebriert werden.

Wir fragen auch: Sind Städte etwas, das wir nur räumlich begreifen – oder auch etwas, das Menschen in sich tragen? Das ist natürlich relevant, wenn Städte im Krieg zerstört wurden. Trotzdem tragen Menschen die urbanen Kulturen in Form ihrer Erinnerungen und Erzählungen weiter mit sich. Deshalb zeigen wir auch Filme über Orte, an denen es unmöglich oder extrem schwierig ist, zu filmen, wie in Gaza zum Beispiel.

Warum haben Sie den Titel »Ghosts, Griefs and Lost Dreams« (»Geister, Trauer und verlorene Träume«) gewählt?

Es gibt dieses nostalgische Narrativ über die arabische Stadt als etwas, das früher schön war und irgendwie verloren gegangen ist. Ich selbst bin dieser Erzählung gegenüber skeptisch, denn sie spiegelt bürgerliche Visionen davon, wie eine Stadt aussehen soll. Der Blick auf Dinge, die nicht mehr da sind, blendet bestimmte Realitäten aus und vereinfacht komplexe Geschichte. »Geister« steht für Dinge, die früher passiert sind, aber immer noch Wirkungsmacht entfalten. Städte haben eine Vergangenheit, die uns nicht loslässt – zum Beispiel, wenn Menschen sie im Krieg oder aus anderen Gründen verlassen mussten. Im tunesischen Film »Ashkal« beispielsweise geht es um eine Revolution, die mehr oder weniger gescheitert ist. Dann kommen die Geister dieser unvollendeten Revolution und nehmen Rache.

Das Thema »Trauer« ist natürlich Teil der arabischen Geschichte, die geprägt wurde von Kolonialismus, Repression, Armut und Kriegen. Die Held*innen unserer Filme erleben, dass ihre Träume von der Stadt als Ort von Freiheit verloren gehen.

Sie kommen aus Alexandria in Ägypten. Welche Art von Stadt tragen Sie in sich?

Ich möchte meine Erfahrungen nicht mit der von Menschen vergleichen, deren Heimat zerstört wurde. Ich kann weiterhin nach Ägypten zurückgehen. Aber ich sehe, dass sich meine Heimat in den zehn Jahren, seit ich weggezogen bin, sehr verändert hat. Ich habe das Gefühl, Alexandria nicht mehr wiederzuerkennen. Mittlerweile ist auch Berlin mein Zuhause geworden. Ich möchte mir auch hier eine Heimat schaffen. Gleichzeitig habe ich verstanden, dass »mein Alexandria« nichts mehr damit zu tun hat, was dort stattfindet. Aber ich habe Bilder, die immer bei mir sein werden. Eine Stadt besteht nicht nur aus Räumen, die man besuchen kann. Unsere Erinnerungen und Erfahrungen sind Teil der urbanen Kultur.

In Syrien wurden viele Städte im Krieg stark zerstört. Welche Rolle spielt das Land in Ihrem Schwerpunkt?

Wir haben zwei Filme aus Syrien, die miteinander im Gespräch sind. Auch ihre Titel sind ähnlich: »Dreams of the City« aus dem Jahr 1984 von Mohamad Malas, dem wahrscheinlich wichtigsten syrischen Filmemacher, und »Damascus Dreams« aus dem Jahr 2021 von der syrisch-kanadischen Regisseurin Émilie Serri. Der erste Film spielt in den 50er Jahren. Der junge Protagonist hat sehr viele Träume, aber stellt fest, dass zum Erwachsenwerden in der Stadt auch die Konfrontation mit Gewalt gehört. Der Film wirkt für mich wie eine Metapher für die syrische postkoloniale Nation und die Entwicklung des Militärs als politische Institution. Der zweite Film spielt nicht in Damaskus selbst. Es geht um die Stadt, die Syrier*innen im Exil mit sich tragen. Es ist ein sehr poetischer Film mit Momenten, bei denen ich weinen musste. Die Regisseurin ist eine Meisterin der Erzählung. Sie schafft es, ihre Protagonist*innen beim Akt des Erinnerns zu ertappen. Das allein reicht, um ein Bild von der Stadt zu bekommen. Es wird klar, dass eine Stadt nicht nur aus Gebäuden besteht, sondern auch Gerüche und Geschmack hat.

Das Spotlight zeigt, wie die Stadt in Filmen verhandelt wird. Wie aber wirken Filme auf Stadt zurück?

Filme wirken auf unsere Vorstellung davon, wie beispielsweise Kairo oder Beirut sind. Filme repräsentieren Städte, aber sie können dabei auch andere Stadtwahrnehmungen verdrängen, indem sie bestimmte Bilder immer wieder reproduzieren. In arabischen Ramadan-Serien leben die Menschen meist in schönen Häusern irgendwo in Kairo, und alles ist super teuer und modern. Wenn man dann die alte Stadt von Kairo zeigt, ist das hingegen fast die fatimidische Stadt mit Arabesk-Toren. Diese sehr wirkmächtigen Bilder werden als authentisch verkauft. Irgendwann gewöhnt man sich an sie und bekommt das Gefühl: So sollte es sein. Die Bilder werden zum Vorbild dafür, wie eine Stadt aussehen soll. Dadurch entsteht eine Art Machtanspruch von denjenigen, die darin repräsentiert werden. Wir begreifen bei ALFILM Stadt stattdessen als etwas, das den Menschen gehört, das sie ständig prägen und verändern.

Teil des Programms ist auch eine Masterclass mit Tamer El Said, dem Regisseur von »In the Last Days of the City«. Worum geht es dabei?

Der Film ist ein Meisterwerk. Er ist von 2016, aber der Dreh hat, glaube ich, fast zehn Jahre gedauert. Ich denke, heute kann man Kairo nicht mehr so filmen. Es ist fast nicht von Revolution die Rede, aber man hat das Gefühl, dass etwas Großes kommt. El Said erzählt in der Masterclass von seinen Erfahrungen mit dem Film, aber zeigt auch andere kurze Arbeiten, die er später gemacht hat. Er beschäftigt sich stark mit der Frage, wie wir über die Stadt erzählen, selbst wenn unsere Möglichkeiten begrenzter werden. Denn an vielen Orten herrscht politische Repression. Wenn heutzutage jemand mit der Kamera herumläuft, ist das suspekt.

Ein anderer Film über Kairo ist »Life or Death« von 1955. So etwas bekommt man in Berlin nicht oft zu sehen. Der Regisseur Kamal al-Shaikh hat damals gesagt: »Schluss mit Studios, ich möchte auf die Straßen gehen und filmen.« Der Film spiegelt die Erfahrung von einer Millionenstadt als etwas Wunderbares, das aber auch Ängste schürt und Risiken birgt.

Alfilm findet vom 26. April bis 2. Mai in Berlin statt. Mehr Infos unter: www.alfilm.berlin

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