Mehr rechte Brandanschläge in Berlin: Hinschauen, wenn es brennt

336 rechtsextreme und rassistische Angriffe zählt Reachout für 2022 in Berlin, darunter fallen zehn Brandstiftungen

Berlin bringt zwar Tausende gegen Nazis auf die Straße, doch rechtsextreme Angriffe und sogar Brandanschläge gehören ebenso zur Realität.
Berlin bringt zwar Tausende gegen Nazis auf die Straße, doch rechtsextreme Angriffe und sogar Brandanschläge gehören ebenso zur Realität.

Es hat wieder gebrannt. Am Dienstagabend gegen 23 Uhr zündeten Unbekannte einen Carport im Neuköllner Ortsteil Rudow an, die Flammen griffen auf den Dachstuhl des Hauses über, das dort lebende Ehepaar im Alter von 68 und 70 Jahren verließ sein Zuhause noch rechtzeitig. Nun wird wegen schwerer Brandstiftung ermittelt. Das geht aus einer Pressemitteilung der Polizei hervor.

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Der Abgeordnete der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Ferat Koçak, ist alarmiert. Das Tatgeschehen erinnert stark an den vermutlich rechtsextremen Brandanschlag auf das Auto seiner Eltern 2018. Koçak habe zudem Sticker der rechtsextremen Partei Dritter Weg an dem Weg gefunden, der direkt neben dem angezündeten Carport verläuft. Geografisch läge der Tatort nicht weit weg von früheren Zielen der Neuköllner Nazi-Szene, die Betroffenen seien seines Wissens polnischer Herkunft. »Für mich ist es wichtig, dass nach rechts ermittelt wird«, so Koçak am Donnerstag bei der Pressekonferenz der Opferberatungsstelle Reachout zu »nd«.

Auch wenn zu dem aktuellen Fall noch keine eindeutigen Hinweise über die Motivation vorliegen, steht er für eine beunruhigende Entwicklung. »Die Brandstiftungen machen uns große Sorgen«, sagt Sabine Seyb von Reachout. Sie stellt die rechten, rassistischen und antisemitischen Angriffe vor, die die Organisation für das Jahr 2022 dokumentiert hat. 336 Angriffe zählt Reachout insgesamt, 17 weniger als im Vorjahr. »Die Angriffe haben sich auf einem sehr hohen Niveau eingependelt«, so Seyb. Mit 60 Prozent stuft Reachout den größten Anteil der Angriffe als rassistisch motiviert ein, an zweiter Stelle steht mit 57 Taten die LGBTIQ*-Feindlichkeit, antisemitische Gewalttaten registriert die Dokumentation insgesamt 25.

Die Art der Angriffe reicht von Bedrohung bis zu schwerer Körperverletzung – und umfasst insgesamt zehn Brandstiftungen mit vermutlich rechter oder rassistischer Motivation, sechs mehr als 2021. Seyb erwähnt einen mutmaßlichen Brandanschlag im Oktober auf ein Wohnhaus mit Geflüchteten in Lichtenberg. Davon habe Reachout erst mit großer Verspätung erfahren. Denn dass in dem Haus in Neu-Hohenschönhausen Geflüchtete leben, geht aus der Pressemitteilung der Polizei vom 9. Oktober nicht hervor.

Nur durch eine kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag sei die Organisation auf die politische Dimension des Feuers aufmerksam geworden: In der Antwort auf die Anfrage von Ende Februar führt eine Tabelle »Proteste gegen und Übergriffe auf Flüchtlingsunterkünfte im vierten Quartal 2022« für ganz Deutschland auf. Darunter findet sich der 9. Oktober als »Besonders schwere Brandstiftung« in Berlin, mit vier Tatverdächtigen. Im Austausch mit den Bewohner*innen sei dann herausgekommen, dass sie schon mehrfach rechte Bedrohungen erlebt hätten und sich in dem Haus nicht mehr sicher fühlten. »Das zeigt, wie wichtig ein kritischer Blick auf die veröffentlichten Mitteilungen der Polizei ist, die selbst keinen politischen Hintergrund erkennen«, sagt Seyb.

Reachout versucht, Polizeimeldungen mithilfe eigener Recherche und der Betroffenenperspektive einzuordnen – wenn es denn überhaupt eine Meldung zu den in Frage stehenden Angriffen gibt. Wenn nicht, steht die Organisation seit 2020 mit leeren Händen da. Denn seitdem übermittelt die Berliner Polizeibehörde keine Informationen zu angezeigten Straftaten an nichtstaatliche Verbände mehr. Offiziell aus datenschutzrechtlichen Gründen, »aber das ist doch nur ein Vorwand«, sagt eine Kollegin von Seyb, die im Publikum sitzt.

Für Reachout und andere Monitoringstellen entsteht dadurch eine absurde Situation: Um angezeigte Straftaten mit rassistischer oder rechtsextremer Motivation zu erfassen, sind sie auf die Antworten der Innenverwaltung auf schriftliche Anfragen angewiesen. Doch selbst darin gehe die Polizei mittlerweile nicht mehr auf entscheidende Angaben wie das Datum, den Stadtteil und den Tatort ein. »Wir müssen die Tabellen dann händisch mit den bei uns gemeldeten Fällen vergleichen«, erklärt Seyb. Wenn die Zahlen nicht übereinstimmten, werde nachrecherchiert.

Das Ergebnis der Dokumentation nennt sie deshalb nur einen »Versuch der Annäherung«. »Wir fordern, dass diese Praxis geändert wird«, so Seyb. Sie hat auch gleich einen Vorschlag parat: Die Pressestelle der Polizei könnte eine Pressemitteilung zu jeder potenziell rassistischen, rechten, antisemitischen und anderweitig diskriminierenden Straftat verfassen. Dann könnte Reachout nicht nur eine vollständigere Dokumentation vornehmen, sondern auch Kontakt zu den Betroffenen aufnehmen und sie unterstützen.

Worauf Seyb außerdem hinweist, ist die Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Von den 490 betroffenen Menschen waren 38 im Kindes- und 45 im Jugendalter. Täter*innen waren meist Erwachsene, Tatort der öffentliche Raum wie öffentliche Verkehrsmittel oder Haltestellen, so Seyb. Als typisches Beispiel erzählt sie von einer Situation vor einem Imbiss am Mehringdamm. Dort habe ein Mann ohne jeglichen Grund aus rassistischer Motivation einem 12- und einem 13-jährigen Jungen ins Gesicht geschlagen. Erschreckend an diesen Angriffen findet Seyb auch das Schweigen der Öffentlichkeit. »Unsere Recherchen und Gespräche mit den Betroffenen zeigen, dass ihnen meist niemand hilft.« Um dem Wegschauen etwas entgegenzusetzen, sei die kontinuierliche Dokumentation unerlässlich.

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