Doku Erdoğans Terrorliste: »Wie im Wilden Westen«

Eine ZDF-Doku erzählt von Can Dündar und anderen auf »Erdoğans Terrorliste«

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 5 Min.
Im Wilden Westen der Neuzeit sind Fahndungslisten online: Can Dündar (M.) und Kolleg*innen
Im Wilden Westen der Neuzeit sind Fahndungslisten online: Can Dündar (M.) und Kolleg*innen

In knapp einer Woche stehen in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen an, und laut letzten Umfragen könnten sowohl die aktuelle Regierungskoalition aus Erdoğans AKP und der faschistischen MHP als auch Recep Tayyip Erdoğan selbst ihre Mehrheiten verlieren. Der Gegenkandidat Kemal Kılıçdaroğlu und sein Mitte-rechts-Bündnis liegen in Umfragen vorn oder gleichauf und erklärten, vor allem das von Erdoğan eingeführte Präsidialsystem und die Entmachtung des Parlaments rückgängig machen zu wollen sowie die türkische Wirtschaftspolitik wieder an der allgemeinen Lehrmeinung auszurichten.

Die politische Stimmung deutet also auf eine knappe Entscheidung hin, und ein Regierungswechsel dürfte in vielen Bereichen zu erheblichen politischen Veränderungen führen. Eine Gruppe wird das Wahlergebnis mit besonders großem Interesse verfolgen: Dissidenten, die von der Repression des Erdoğan-Staates betroffen sind, zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden oder die Türkei verlassen mussten, weil sie dort politischer Verfolgung ausgesetzt sind.

Einer von ihnen, der Journalist Can Dündar, wurde im Jahr 2020 zu über 27 Jahren Haft verurteilt, angeblich wegen Spionage und Terrorunterstützung, und ist nun Protagonist einer investigativen »Frontal«-Reportage, die am 9. Mai im ZDF zu sehen sein wird. Darin präsentiert er gemeinsam mit Co-Autor und Grimme-Preisträger Hauke Wendler (»Willkommen in Deutschland«, »Monobloc«) seine persönliche Geschichte und überdies einen ziemlich erschreckenden Einblick in die Praxis des türkischen Autokraten, ungeliebte Personen einfach einsperren zu lassen, sie auch im Ausland aufzuspüren, zu kidnappen oder gar Anschläge auf sie verüben zu lassen.

Bereits ganz am Anfang des Films sehen wir Bilder aus dem Jahr 2016, auf denen zu sehen ist, wie auf offener Straße auf Dündar geschossen wird. Er verlässt die Türkei und flieht nach Deutschland. Doch auch hier steht er unter Polizeischutz, sein Leben wird weiterhin bedroht, auch die Dreharbeiten finden teilweise unter Polizeischutz statt. Dündar landet auf »Erdoğans Terrorliste« (so auch der Titel des Films), einer Zusammenstellung von Personen, gegen die Haftbefehle bestehen und für deren Inhaftierung offenbar Belohnungen ausgesetzt sind. »Die haben Geld auf meinen Kopf ausgesetzt, wie im Wilden Westen«, sagt Dündar und zeigt die im Internet zugängliche Seite mit Fotos der Gesuchten.

Dündar und Wendler stoßen auf der Suche nach weiteren Betroffenen unter anderem auf den Blogger Cevheri Güven, dem nach dem gescheiterten militärischen Putschversuch 2016 wegen seiner öffentlich geäußerten Kritik insbesondere an der Kurdenpolitik seines Landes politische Verfolgung drohte. Auch Güven, ehemaliger Redakteur der türkischen Satirezeitschrift »Noktar«, findet sich auf der Terrorliste, auch er berichtet von Verfolgung, davon, dass die große türkische Boulevardzeitung »Sabah« Fotos von ihm in seinem neuen Wohnort und sogar Fotos aus dem Inneren seiner Wohnung veröffentlichte.

Mit der Veröffentlichung seiner Privatanschrift steigt die Bedrohungslage, und viele radikale Erdoğan-Anhänger, so Güven, könnten sich motiviert fühlen, die ausgefallene staatliche Repression eigenhändig zu vollstrecken. »Erdoğan hat einige rote Linien. Und wer diese Linien überschreitet, dem passiert was«, sagt er. Wie man an dem Fall Ahmet Dönmez sehen kann, der im Mai 2022 in seinem schwedischen Exil verfolgt und verprügelt wurde, auch ihn besuchen Wendler und Dündar.

Die Reportage zeigt an diesen und weiteren Beispielen, wie das Nato-Mitglied Türkei einheimische Journalisten derart einschüchtert, dass von Pressefreiheit nicht mehr viel übrig bleibt, und skandalisiert die Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung und anderer. Schließlich trifft Dündar in einem Gefängnis in Buenos Aires einen Auftragskiller, der mutmaßlich vom türkischen Geheimdienst auf ihn angesetzt wurde, der offenbar im Deep-State-Stil, also im Sinne Erdoğans, aber auf eigene Faust agiert.

Indem auch der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul zu der Sache befragt wird, geben Dündar und Wendler den Vorgängen eine innenpolitische Dimension. Selten freimütig gibt Reul zu, dass man die Repression gegen die Pressefreiheit in Kauf nehmen müsse, denn: »Man darf nicht vergessen, dass die türkische Politik uns auch in der Frage Flüchtlingsströme geholfen hat, dass die Belastung für die Bundesrepublik Deutschland nicht so groß geworden ist, wie sie hätte werden können.« Wer »uns« die Flüchtlinge vom Hals hält, dem muss man eben auch eine gewisse grundlegende Menschenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft zugestehen – Reul äußert die widerwärtige Amoral der bürgerlichen Gesellschaft routiniert und ohne mit der Wimper zu zucken.

Das arbeitet der Film einerseits heraus, stellt aber gelegentlich sehr naive Fragen: »Jeder Politiker in Deutschland weiß, dass viele hierzulande Angst haben vor Bildern wie diesen«, heißt es in einem Voice-over zu Bildern aus »überfüllten« türkischen Geflüchteten-Lagern, »aber darf die deutsche Politik es deshalb hinnehmen, dass Erdoğans Kritiker bei uns verfolgt werden? Nur weil der droht, dass die Schlauchboote mit seinem Segen wieder fahren?« Weder fällt die »Angst« vor Geflüchteten vom Himmel, noch kommt sie »der Politik« irgendwie ungelegen, noch besteht zwischen der Repression gegen Geflüchtete und der gegen Dissidenten ein allzu großer Unterschied.

Selbstverständlich handeln bürgerlich-kapitalistische Staaten menschenfeindlich. Sie sind dazu da, Wertakkumulation und -verwertung abzusichern; dazu braucht es unter anderem nationalistische Narrative, Demonstration von repressiver Handlungsfähigkeit und zur Not auch Repression gegen Personen. Der politische Apparat hat die Aufgabe, Kapitalinteressen zu sichern, und da spielen Einzelschicksale keine Rolle, weder von Geflüchteten noch von Journalisten.

Die filmische Erinnerung an die besondere Rücksichtslosigkeit des Erdoğan-Regimes dürfte indes bei den immerhin 1,5 Millionen türkischen Wahlberechtigten hierzulande kaum zur Steigerung der Popularität des Autokraten beitragen und ist schon deswegen sehenswert.

»Erdoğans Terrorliste – Wie die türkische Regierung weltweit Kritiker jagt«, 9.5., 21 Uhr, ZDF

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