Wave-Gotik-Treffen: Mittelalterkult und subversive Statements

Mit dem Leipziger Wave-Gotik-Treffen hat das weltweit größte Festival der »Schwarzen Szene« an Pfingsten sein 30. Jubiläum gefeiert

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 6 Min.

Leipzig im Jahr 1992: Im südlich gelegenen Eiskeller (heute besser bekannt als Conne Island) versammeln sich zu Pfingsten knapp 2000 Gothics und Waver, um ein Festival aus der Taufe zu heben, das später noch für einige Furore sorgen wird: das Wave-Gotik-Treffen, kurz WGT. In den Folgejahren etabliert es sich als eines der weltweit größten Festivals der sogenannten Schwarzen Szene. Jahr für Jahr warten die Veranstalter mit einem namhaften Line-Up auf. Für das WGT gebucht zu werden, gleicht für viele Bands einem Ritterschlag. Am vergangenen Pfingstwochenende hat das WGT – nach zwei Ausfällen in den Pandemiejahren 2020 und 2021 – sein 30. Jubiläum gefeiert.

Von einer Szene im engeren Sinne zu sprechen, ist im Falle der Schwarzen Szene allerdings etwas irreführend. Denn jährlich treffen sich in der Messestadt dutzende Stränge zum Teil sehr unterschiedlicher Subkulturen: Gothics, Waver, Mittelalter-Freaks, Steampunks, (Post-)Punks, Industrials und Neofolks kommen hier zusammen und zelebrieren mal separat, mal gemeinsam ihre nicht selten spleenigen Vorlieben.

Provokation von links

Solche Differenzen schaffen Akzeptanz, könnte man meinen. Und tatsächlich gilt die Schwarze Szene landläufig als sehr tolerant und offen. Wagt man es aber, sich der einheitlich schwarzen textilen Grundierung zu widersetzen, provoziert man schon einmal irritierte Blicke. »Du weißt schon, auf welchem Festival du gelandet bist?«, werde ich freitagmittags irritiert-kokett gefragt, als ich es wage, in schlichter, dunkelblauer Montur das Agra-Gelände – Epizentrum und heilige Halle des WGT – zu betreten. Ja, das weiß ich in der Tat.

Provokanter erscheint noch die Zeitung, für die zu schreiben ich beauftragt wurde. »›nd‹ – also sozusagen die ›Rote Fahne‹«, werde ich am Presseschalter in scherzhaftem Tonfall begrüßt, als ich dort meine Akkreditierung abholen will. Ob ich denn vorhätte, einen politischen Bericht über das WGT zu schreiben, fragt man mich anschließend schon deutlich ernsthafter. Schließlich wolle man ja bloß eine gute Zeit haben und habe mit Politik nichts am Hut. Nein, einen politischen Artikel zu verfassen, hatte ich eigentlich nicht vor, doch macht mich die Nachfrage hellhörig: Denn sie offenbart, dass man sich auf dem WGT vor allzu kritischen Linken ziemlich zu fürchten scheint. Im Zweifel wohl mehr als vor Rechten oder Reaktionären, denen man in der Vergangenheit schon mal die eine oder andere große Bühne bot: Insbesondere Neofolk-Bands wie zuletzt Of The Wand & The Moon, die im vergangenen Jahr auf dem WGT auftraten, fallen immer wieder durch Anleihen aus germanisch-nordischen Mythologien und Verstrickungen in rechtsextreme Kreise auf.

Eine wohltuende Symbolik

Am späten Abend testet die Noise-Rock-Band Gewalt aus Berlin mit ihrem geschätzten 190-Dezibel-Sound die Standhaftigkeit des altehrwürdigen Kellergewölbes der Moritzbastei, die sich direkt am Uni-Campus in der Innenstadt befindet. Die Band, bestehend aus Sänger und Gitarrist Patrick Wagner, Bassistin Helen Henfling und Gitarristin Jasmin Rilke, hat seit ihrer Gründung im Jahr 2015 mit ihrem repetitiv-brachialen Mix aus ballernden Drummachine-Salven und noisigen Rückkopplungsgitarren bereits für einige Furore gesorgt. Zu diesen Klängen kommen dann Wagners Texte, die in guten Momenten schlechte Laune, und in schlechten einen grenzenlosen Weltekel offenbaren.

»Zwei Drittel Frauen auf der Bühne – find ich echt super«, so ein Besucher über den Auftritt der Band Gewalt aus Berlin. »Genau, die Weiber gehören schließlich auf die Bühne«, antwortet sein Begleiter.
»Zwei Drittel Frauen auf der Bühne – find ich echt super«, so ein Besucher über den Auftritt der Band Gewalt aus Berlin. »Genau, die Weiber gehören schließlich auf die Bühne«, antwortet sein Begleiter.

Neben mir unterhalten sich zwei maskuline Endvierziger angeregt über die Bandkonstellation. »Zwei Drittel Frauen auf der Bühne – find ich echt super«, so der eine, und meine anfängliche Skepsis ihnen gegenüber verwandelt sich in ein mildes Lächeln. »Genau, die Weiber gehören schließlich auf die Bühne«, raunt der andere und nippt an seinem siebten Pils. Meine Milde ist schon wieder dahin. »Wie heiß die Bassistin auch ist! Ich sag’s ja immer wieder: Bassistinnen sind eh alle heiß – immer!«, rülpst der erste mit geiferndem Blick zurück, daraufhin gerät das Gespräch unter emanzipatorischen Gesichtspunkten völlig aus dem Ruder. Doch als hätte Helen Henfling etwas geahnt, beginnt sie plötzlich, ihren schweren Fender-Bass ganz in Alter-Rockstar-Manier zwischen ihren Beinen als monströsen Phallus zu positionieren und mit rhythmischen Bewegungen in Richtung des Publikums zu stoßen. Eine wohltuende Symbolik, und ich beginne wieder zu lächeln.

Schwarz-blau-rot

Während das WGT die stadtinterne Infrastruktur ohnehin Jahr für Jahr in einen Ausnahmezustand versetzt, spitzt sich die Lage in diesem Jahr noch weiter zu: Denn am Freitagabend eröffnen die britischen Düster-Waver Depeche Mode ihre Deutschlandtournee in Leipzig auf der Festwiese, und man darf annehmen, dass das terminliche Ineinsfallen mit dem WGT kein reiner Zufall ist. Etliche Zuschauer, die ohnehin für das Festival in der Stadt sind, haben sich vorab auch mit einem Ticket für das Depeche-Mode-Konzert ausgestattet.

Leider entspannt sich die Lage auch am Samstag nicht: Zwar haben viele Depeche-Mode-Fans die Stadt schon wieder verlassen, dafür treffen nun tausende Anreisende aus dem Ruhrpott am Hauptbahnhof ein, um den FC Schalke 04 nachmittags lautstark im Spiel gegen RB Leipzig zu unterstützen und vor dem Abstieg in die 2. Bundesliga zu bewahren (erfolglos, wie wir nun wissen). Blaue Menschenmassen beargwöhnen in der Innenstadt schwarze Menschenmassen, und umgekehrt. Dazu gesellen sich mit der Zeit noch rot gekleidete Leipziger Fußballfans – ein bizarres Spektakel. Und doch bleibt alles friedlich. Irgendwie auch eine Form gelebter Multikulturalität.

Mittelalterkult und Cyber-Futurismus

Neben hochkarätigen Acts wie den diesjährigen deutschen ESC-Verlierern Lord Of The Lost, der belgischen EBM-Institution Front 242 und Gothic-Pionieren der ersten Stunde wie The Mission oder The March Violets wartet das Festival auch in diesem Jahr mit allerlei nichtmusikalischen Programmpunkten auf: Eines der Highlights ist dabei das alljährliche Viktorianische Picknick im zentral gelegenen Clara-Zetkin-Park, der dabei zum weitläufigen Modesteg der Schlechtgelaunten und Melancholiker mutiert. Dabei zieht das Spektakel neben den Protagonisten selbst auch viele szeneferne, mit Kameras ausgestattete Schaulustige an.

Andere Programmpunkte wie der martialische Ritterkampf oder die berüchtigte Jungfrauenversteigerung auf dem Mittelaltermarkt offenbaren indessen, wie sehr das Festival strukturell verfangen ist zwischen schillernden, exaltierten, mitunter subversiven Rollenspielen auf der einen und barbarisch-voyeuristischer Mittelalterglorifizierung auf der anderen Seite.

Und irgendwie, so gewinnt man im Laufe des Wochenendes den Eindruck, hat sich das WGT auch ganz gut eingerichtet in diesem widersprüchlichen Verhältnis zwischen Jungfrauenversteigerung und subversiven Genderrollen, zwischen Mittelalterkult und Cyber-Futurismus, zwischen Vergangenheit und Retro-Zukunft. Vielleicht sind das Besänftigen solcher Konflikte und das Einfordern eines vermeintlich unpolitischen Standpunktes auch Gründe dafür, dass das Publikum von Jahr zu Jahr mit der Veranstaltung altert. Personen unter 30 Jahren sind auf dem WGT kaum mehr zu sehen. So spektakulär, unterhaltsam und schillernd das Festival mitsamt seinen Besuchern und der breiten Programmvielfalt erscheint, so erstarrt wirkt es in seinem traditionsschweren Ritualismus mitunter auch.

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