Otto Nagel: Arbeiter, Prostituierte und Bettler

Eine Ausstellung in Berlin zeigt, wie Schülerinnen und Schüler sich mit dem Werk Otto Nagels auseinandergesetzt haben

Der Präsident der Deutschen Akademie der Künste, Professor Otto Nagel, unter den Gästen des V. Parteitages der SED 1958
Der Präsident der Deutschen Akademie der Künste, Professor Otto Nagel, unter den Gästen des V. Parteitages der SED 1958

Ob Gerhard Schröders »Agenda 2010« oder Franziska Giffeys Weigerung, den Berliner Volksentscheid zur Enteignung großer Immobilienkonzerne umzusetzen: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) zeigte sich entgegen ihres Namens in den letzten Jahrzehnten alles andere als sozial. Das war mal anders: Bevor die SPD zu ihrem Namen kam, hieß sie Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) und ihr Programm war stark vom Marxismus geprägt. Zu ihren Gründungsvätern gehörte auch August Bebel (1840–1913), der wie viele seiner Parteikollegen davon überzeugt war, dass Privateigentum zugunsten einer genossenschaftlichen Produktionsweise abgeschafft werden müsse, um die Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern zu beenden.

Es passt, dass in der Galerie des August-Bebel-Instituts in der Berliner SPD-Zentrale gerade eine Otto-Nagel-Ausstellung zu sehen ist. Denn auch Nagel (1894–1967), der in einem sozialdemokratischen Haushalt aufwuchs und erst SPD-, dann USPD- und schließlich KPD-Mitglied wurde, hatte sich als Künstler der Sache des Proletariats verschrieben. Im Wedding geboren und jahrzehntelang lebhaft, waren seine Sujets die Menschen aus seiner Nachbarschaft: Arbeiter, Hausfrauen, Kneipenwirte, Kriegsversehrte, Prostituierte, Bettler, Abgehängte. Man kann ihn wohl, wie der Literaturwissenschaftler Klaus Hammer meint, den bedeutendsten proletarischen Maler des 20. Jahrhunderts nennen.

Nun haben Schülerinnen und Schüler des Otto-Nagel-Gymnasiums in Berlin-Biesdorf einige von Nagels Werken in den Wedding zurückgeholt und ausgestellt – ergänzt durch Objekte und Dokumente wie eine große Porträtfotografie des Künstlers oder einen Brief des Regisseurs Ernst Dahle an Nagel aus dem Jahre 1947, der unter anderem belegt, dass Nagel sich künstlerisch schon früh mit den Verbrechen der Nazis gegen Jüdinnen und Juden auseinandersetzte.

Das Interessanteste der Ausstellung sind jedoch die Arbeiten der Schülerinnen und Schüler selbst beziehungsweise die Weise, wie sie mit Nagels Werk korrespondieren. Mit dem Titel »Lebenskreise« wird das Konzept der Ausstellung bezeichnet, die Werke gemäß den verschiedenen Umfeldern, in denen Nagel sich bewegte, zu gruppieren. Dazu gehörte die Familie ebenso wie das städtische Milieu und die Kulturpolitik, in der Nagel, der sechs Jahre Präsident der Akademie der Künste der DDR war, kräftig mitmischte.

Betritt man den bestuhlten Saal der Galerie, fällt der Blick allerdings zunächst nach links auf den »Lebenskreis Weitergabe«: Hier geht es nicht um einen Lebensbereich im engeren Sinne, sondern um Imitation und Inspiration. Neben Arbeiten von Nagel hängen hier Studien, die zeigen, wie sich die Schülerinnen und Schüler mit seiner Ästhetik (und übrigens auch der von Käthe Kollwitz, die eng mit Nagel befreundet war) vertraut machen, sich Nagel-typische Strichführungen mit Kohle, Kreide und Bleistift aneignen. Wenig später stößt man auf QR-Codes: Wer ein smartes Telefon dabeihat, kann damit verschiedene Podcasts abrufen. Darin treten die Jugendlichen in einen fiktiven Austausch mit Werken Nagels und den darin abgebildeten Menschen.

Otto Nagel wird in der Ausstellung also nicht nur als stilistischer, sondern auch inhaltlicher Impulsgeber präsentiert. Das sei am »Lebenskreis Armut« veranschaulicht: Hier hängt unter anderem Nagels Lithografie »Aus (Karree) Wedding« (1921), die wohl das rege Treiben in einem der neuen Einkaufszentren (auch Karrees genannt) zeigt, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin gebaut worden waren. Daneben Nagels Tuschezeichnung »Bettelleute« (1921), in der er den Blick auf jene richtet, die nur durch Almosen am Konsum teilnehmen konnten. Charline Gronwald verbindet beide Motive in ihrer bunten Aquarellzeichnung »Bettler 2023«: Diese zeigt einen am Boden sitzenden Mann, der offenbar um Spenden bittet – durch seine Kopfbedeckung, eine Beanie, der Gegenwart zuordenbar –, daneben die untere Körperhälfte einer mit Einkaufstüten beladenen Frau.

Wohl bewusst nimmt die Schülerin hier eine Perspektive ein, die nicht den Körper der aufrecht Gehenden, sondern den des Kauernden umfasst. Teil der Konstellation sind auch zwei Fotografien von Khadija Rashid: Sie zeigen eine obdachlose Person unter einer Brücke aus unterschiedlichen Perspektiven. Im Bild an der Wand das Wort »Szeneplakatierung«, darunter Plakate für Kulturveranstaltungen. Szene und Armut: Diese Verbindung ist in Berlin allgegenwärtig. Unter dem Motto »arm, aber sexy« ließ sich aus ihr auch schon Kapital schlagen – was die Stadt reicher machte und die Wohnungsnot verschärfte.

Die Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler mit Otto Nagels Werk zeigt, dass viele Szenen, die Nagel malte und die sozialen Anliegen, die sich darin ausdrückten, auch ein Jahrhundert später nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. Auf Hilfe der SPD ist in dieser Angelegenheit wohl kaum zu hoffen.

»Lebenskreise – Otto Nagel und seine Zeit«, bis zum 14. Juni, Galerie im August-Bebel-Institut, Berlin. Die Galerie ist mittwochs bis freitags von 16 bis 18 Uhr und nach telefonischer Absprache (0173 6104938) geöffnet. Am Samstag, dem 10. Juni, hält Nadja Schallenberg (Enkelin von Otto Nagel) um 15 Uhr den Vortrag »Familie Schallenberg-Nagel in der DDR«. Am Mittwoch, dem 14. Juni, wird zur Finissage ab 16 Uhr der Defa-Dokumentarfilm »Die Biografie Otto Nagels« (1970) gezeigt.

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