Erinnern an Porajmos: Gerechtigkeit für Sinto-Boxer Trollmann

Die Naturfreunde erinnern in Berlin an das Nazi-Opfer Rukeli Trollmann

Heute steht in der Fidicinstraße 2 in Kreuzberg ein Pflegeheim mit schmückender Grünanlage. Vor 90 Jahren befand sich hier der Biergarten der benachbarten Bockbrauerei. Am 9. Juni 1933 boxte an dieser Adresse unter freiem Himmel Johann »Rukeli« Trollmann um die deutsche Meisterschaft im Halbschwergewicht. Die Umstände des Boxkampfes und das Schicksal von Trollmann sind es wert, daran zu erinnern – und das tun am Freitagabend 14 Menschen auf Einladung der Berliner Naturfreunde. Sie sind mit Blumen und einem Transparent zum Gedenken an dieses Opfer des Faschismus gekommen.

Geboren 1907, wuchs Trollmann in Hannover auf – in einer großen Sinti-Familie und ärmlichen Verhältnissen. Zweimal wurde er norddeutscher Amateurmeister, dann wechselte er ins Profilager und ging nach Berlin. Wie viele Sinti hatte Trollmann zwei Vornamen, einen fürs Standesamt und einen in der Sprache der Sinti und Roma, in der »Ruk« Baum heißt und »Rukeli« ein schöner, biegsamer Baum ist.

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Im Boxring tänzelte Trollmann und wich so den Schlägen seiner Gegner aus. Dafür liebten ihn seine Fans und dafür hassten ihn die Faschisten zusätzlich. Als »undeutsch« verunglimpften sie seine Bewegungen im Ring, die an Muhammad Ali erinnern, den Ausnahmeboxer späterer Zeit, der als Schwarzer und wegen seines Engagements für Frieden und Bürgerrechte diskriminiert wurde. Trollmann interessierte sich nicht für Politik, geriet aber in ihre Mühlen und setzte dann ein trotziges Zeichen gegen Rassismus.

Der deutsche Meister Erich Seelig hätte im März 1933 seinen Titel im Halbschwergewicht verteidigen sollen. Doch wegen seiner jüdischen Abstammung wurde Seelig von der SA bedroht und floh ins Exil. So boxte am 9. Juni Adolf Witt gegen Rukeli Trollmann. Als Sinto war auch Trollmann den Nazis nicht genehm. Er sollte nicht gewinnen. Obwohl Publikum und Punktrichter an diesem 9. Juni 1933 einen klaren Punktsieg Trollmanns vor Augen hatten, sollte der Kampf als unentschieden gewertet werden. Erst nach Protesten der Zuschauer erhielt er den Siegerkranz. Doch eine Woche später erkannte ihm der Boxverband den Titel wieder ab. Erst 2003 wurde er ihn postum doch noch zugesprochen.

Unter dem Eindruck der Schiebung stieg Trollmann im Juli 1933 zu seinem nächsten Boxkampf mit blond gefärbten Haaren und weiß gepuderter Haut als Karikatur eines Ariers in den Ring. Er ging k. o., vielleicht auch deshalb, weil er versuchte, nicht wie gewohnt zu tänzeln, was ihm untersagt worden war.

Im Juni 1935 heiratete Rukeli Trollmann seine Freundin. Seine Tochter Rita war kurz zuvor zur Welt gekommen. Trollmann verließ aber die Familie und kehrte nach Hannover zurück – vermutlich in dem Glauben, Frau und Tochter hätten es ohne ihn einfacher. Noch in Berlin wurde Trollmann im Dezember 1935 zwangssterilisiert – Stufe eins zur geplanten Auslöschung der Sinti und Roma, bevor der Massenmord begann.

Als Soldat einberufen, diente Trollmann in Frankreich und Belgien sowie an der Ostfront, wo er verwundet wurde. Im Oktober 1942 steckte ihn die SS ins KZ Neuengamme. Angeblich starb er dort am 9. Februar 1943. Doch 1969 sagte ein ehemaliger Häftling des Außenlagers Wittenberge in der Prignitz aus, er habe Trollmann 1944 dort gesehen. Tatsächlich könnte Trollmann, zermürbt durch gewalttätige Boxtrainings mit den Wachmannschaften von Neuengamme, von Kameraden in der Lagerverwaltung eine neue Identität und eine Überstellung nach Wittenberge erhalten haben, wo er vorerst gerettet war, dann aber doch erschlagen wurde. Der Zeitpunkt von Trollmanns Tod bleibt unklar. Fest steht aber: Er wurde im KZ ermordet.

Das betont am Freitag Karin Dittmar von der Initiative »Kein Mensch ist asozial«. Den schwarzen Winkel der als »asozial« Gebrandmarkten trug Trollmann im KZ Neuengamme an seiner Häftlingsjacke. Dittmars Mitstreiter Lothar Eberhardt stieß vor zehn Jahren bei Recherchen zur Verfolgung der angeblich Arbeitsscheuen auf Dokumente zur Zwangssterilisation von Trollmann.

Am Freitagabend sitzt Eberhardt an der Seite von Trollmanns Tochter Rita im Kreuzberger Kino »Moviemento«. Dort wird zunächst der Film »Gibsy – Die Geschichte des Boxers Johann Rukeli Trollmann« von 2013 gezeigt. Regisseur Eike Besuden drehte diese Dokumentation mit nachgespielten Szenen. »Gipsy« ist eine englische abwertende Bezeichnung für Roma. »Gibsy« stand mit einem Schreibfehler auf die Hose gestickt, die Trollmann selbstbestimmt im Boxring trug, und so tauften ihn damals die Sportreporter. Nach dem Film sprechen Lothar Eberhardt, Eike Besuden und Rita Vowe-Trollmann mit den 35 Zuschauern, mit denen der kleine Kinosaal gut besucht ist.

»Ich habe meinen Vater lange verleugnet. Ich wollte kein Zigeuner sein«, erzählt Rita Vowe-Trollmann. Inzwischen ist die 88-Jährige stolz auf ihren Vater und ihre Herkunft. Doch sie hat fast keine eigene Erinnerung an ihn und wurde in Unwissenheit groß. Erst im Alter von 15 oder 16 Jahren hörte sie von einer Tante die Wahrheit. Sie habe das erst gar nicht begreifen können. Sie sollte eine von den »dreckigen Zigeunern« sein? Denn so wurden diese Menschen in ihrer Jugend immer noch verleumdet. Betrunken habe die Mutter sie einmal »dreckiges Zigeunerschwein« geschimpft. »Das war keine schöne Kindheit.« Erschüttert hören die Kinobesucher das. Niemand wirft Trollmanns Tochter vor, in diesem Zusammenhang das Wort »Zigeuner« zu verwenden, das ansonsten besser vermieden wird.

Im Nachhinein wurde Rita vieles klar. Sie konnte sich nun ihre dunkle Haut und die scheelen Blicke erklären. 1950 war der Boxer Trollmann in Berlin noch ein Begriff. »Es haben alle gewusst, wer mein Vater war, nur ich nicht.« Krankenschwester wollte Rita werden und wurde nicht eingestellt. Das Krankenhaus habe keine Sintezza gewollt, hat ihr später ein Mitarbeiter verraten.

Trotzdem ist Rita Vowe-Trollmann nicht verbittert. Sie musste sich durchboxen wie ihr Vater, wenn auch auf andere Weise. Sie ist eine sympathische, beeindruckende Frau. Sie tut, was sie kann, um an das Schicksal ihres Vaters und der Sinti und Roma zu erinnern, damit sich so etwas nie wiederholt. Nachdem einem Sturz, bei dem sie einen Oberschenkelhalsbruch erlitt, kann sie aber nur noch schlecht laufen. »Nun müssen Jüngere weitermachen«, sagt sie.

Bei mehr als 1000 Berliner Sinti und Roma, die Opfer des Faschismus geworden sind, gebe es in der Stadt nur drei Stolpersteine, die dieser Opfergruppe gedenkt, bedauert Uwe Hiksch von den Naturfreunden. Insgesamt finden sich auf den Gehwegen der Hauptstadt 10 000 Stolpersteine für Nazi-Opfer. Mit Vorschlägen für 2000 weitere seien Gunter Demnig und sein Team, das die Steine fertigt, für die nächsten drei Jahre ausgebucht, erklärt Hiksch. Da sei zu überlegen, was sich machen ließe gegen dieses Defizit in der Erinnerungskultur. Es sollte vielleicht eine Schule oder eine Straße nach Rukeli Trollmann benannt werden. Auf jeden Fall möchten die Naturfreunde jetzt jedes Jahr am 9. Juni an den Boxer erinnern. Auch Bezirksschulstadtrat Andy Hehmke (SPD) findet: »Das darf niemals vergessen werden, was damals passiert ist.«

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