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  • Diskriminierung in Behörden

Wer kein Deutsch spricht, wird von Berliner Ämtern alleingelassen

Berliner Behörden verweigern die Arbeit, wenn Menschen ohne Deutschkenntnisse Anträge stellen, kritisiert die Landesarmutskonferenz

Entrechtet unter Neonröhren: Behörden diskriminieren Menschen ohne Deutschkenntnisse.
Entrechtet unter Neonröhren: Behörden diskriminieren Menschen ohne Deutschkenntnisse.

Zwei Wochen lang schlief Ahmed Ahmed mit seiner Familie auf der Straße. Und das nur, weil ein Berliner Sozialamt ihm, seiner Frau und den gemeinsamen drei Kindern keine deutsch-bulgarische Übersetzung zur Verfügung stellte. So erzählt es Ahmed bei einer Presseveranstaltung der Landesarmutskonferenz am Dienstag. Es geht um Diskriminierung in Berliner Behörden, die offenbar regelmäßig nicht-deutschsprachigen Menschen ihre Rechte verwehren.

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»Berlin hat den Anspruch, eine weltoffene Stadt zu sein«, leitet der Sprecher der Landesarmutskonferenz Karsten Krull das Treffen ein. »Die Realität ist leider eine andere.« Zuwander*innen stießen immer wieder auf Sprachbarrieren in offiziellen Ämtern. Eigentlich stelle das Land Berlin Dolmetscherdienste und Integrationslotsen zur Verfügung. Doch laut Krull reiche dieses Angebot nicht aus: Die Dienste erforderten eine komplizierte Beantragung und würden oftmals gar nicht genutzt. In manchen Fällen würden Mitarbeiter*innen der Ämter auch darauf verzichten, um sich die zusätzliche Arbeit zu sparen, vermutet er.

Betroffen sind nicht deutschsprachige Menschen in ganz unterschiedlichen Lebenslagen. Ob es nun mit dem schulpflichtigen Kind zum Schulamt, für eine Geburtsurkunde zum Standesamt oder bei Wohnungsverlust zum Sozialamt geht – »Menschen sind früher oder später mit allen möglichen Behörden konfrontiert«, so der Sozialarbeiter der AWO-Migrationsberatung Dirk Heinke. Gerade wenn dann kein deutschsprachiger Bekanntenkreis bereitstehe, der zu Terminen begleiten und Briefe übersetzen kann, fänden sich die Betroffenen schnell in schwierigen Lagen wieder.

Ahmed, seine Frau und ihre drei, sechs und sieben Jahre alten Kinder etwa gerieten plötzlich in die Wohnungslosigkeit. Die Familie war Anfang des Jahres aus dem bulgarischen Warna nach Berlin gekommen. »Wir sind nach Deutschland, um hier Arbeit zu finden und um unser Leben zu verbessern«, erklärt Ahmed auf Bulgarisch. Er habe schnell einen Job als Reinigungskraft gefunden. Doch dann warfen die Bekannten, bei denen die Familie untergekommen war, sie raus. »Meine Bemühungen, eine Wohnung zu finden, waren erfolglos. Deshalb habe ich einen Antrag beim Sozialamt gestellt«, so Ahmed.

Nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) müssen Sozialämter bei Wohnungsnotfällen sofort reagieren; als EU-Bürger hätte Ahmed Anspruch auf Unterbringung für sich und seine Familie. Doch als er in der Behörde den vollständigen Antrag vorlegte, habe die verantwortliche Person die Bearbeitung verweigert. »Es wurde mir gesagt, dass ich aufgrund der Sprachbarriere nicht die notwendige Beratung bekommen kann«, so Ahmed. Zwei Wochen musste die fünfköpfige Familie auf der Straße verbringen, bis sie einen Dolmetscher fand und in eine ASOG-Unterbringung ziehen konnte.

Maria Coelho landete nur mit Glück nicht auf der Straße. Die Portugiesin berichtet am Dienstag von ihren Erfahrungen mit der Bundesagentur für Arbeit. 2021 kommt sie für einen Job als Supervisor bei Gorillas nach Berlin. Nach zwei Jahren wird ihr gekündigt, sie beantragt deshalb Arbeitslosengeld. Bei ihrem ersten Termin lässt die Sachbearbeiterin sie abblitzen: Sie spreche kein Englisch. Nur zufällig kann eine andere Klientin als Übersetzerin aushelfen, so Coelho. »Aber als die junge Frau wegmusste, hat mir die Mitarbeiterin sofort gesagt, dass sie nicht mit mir reden wird. Ich bin in Tränen gegangen; die haben dort nicht einmal versucht, mich zu verstehen.« Der zweite Termin mit einem anderen Sachbearbeiter verläuft ähnlich. Als sie sich ein weiteres Mal von einem deutschen Kollegen begleiten lässt, der freundlich empfangen wird, sei ihr aufgegangen: »Ich bin eine Zweite-Klasse-Bürgerin, obwohl ich Erste-Klasse-Steuern zahle.«

Weil ihr Antrag anfangs nicht bearbeitet wird, verstreichen wichtige Fristen, und die Arbeitsagentur verhängt eine dreimonatige Sperre gegen Coelho. »Mir ist das Geld ausgegangen, ich war auf die Unterstützung meiner Freunde angewiesen. Ohne sie wäre ich jetzt wohnungslos.« Nicht nur das Finanzielle belastet Coelho, die Erfahrungen mit dem deutschen System zermürben sie: »Wenn ich gewusst hätte, dass das passieren würde, wäre ich nicht nach Deutschland gekommen. Die Haltung in den Behörden ist so, als ob wir alle Parasiten wären. Dabei ist Übersetzung keine Nettigkeit, sondern mein Recht.«

Coelhos Anwältin Ourania Kyriakopoulou kennt viele solcher Geschichten. »Das ist kein Einzelfall«, betont sie. Sie bietet bei der Beratungsstelle Migration und Gute Arbeit juristische Unterstützung an. »Leute erwarten schon ein bisschen, von Arbeitgebern ausgenutzt zu werden, aber nicht vom Staat.« Eigentlich verpflichte das EU-Recht die Mitgliedsländer dazu, Behörden durch Übersetzungsangebote für EU-Bürger*innen zugänglich zu machen. Das Gesetz zur »Amtssprache« erschwere aber die Situation: Selbst wenn Sachbearbeiter*innen die erforderliche Sprache sprechen, würde ihnen das ihrer Erfahrung nach untersagt, so Kyriakopoulou.

Es ginge auch anders. Svenja Ketelsen von der Fachgruppe Migration innerhalb der Landesarmutskonferenz erwähnt das Thüringer Modell: Eine Telefonhotline verbindet in Thüringen die behördlichen Mitarbeiter*innen innerhalb von maximal vier Minuten mit den richtigen Dolmetscher*innen. »Und zwar von Albanisch bis Vietnamesisch«, ergänzt ihr Kollege Krull.

Sozialarbeiter Heinke fasst drei Hauptforderungen zusammen: Erstens müssten Formulare mehrsprachig zur Verfügung stehen, zweitens müsste bei der Digitalisierung Mehrsprachigkeit gleich mitgedacht werden, und drittens brauche es eine vergleichbare Hotline für spontane Übersetzungsdienste per Audio- oder Videotelefonat.

Die aktuelle Koalition kennt das Problem; im Koalitionsvertrag kündigt sie eine Machbarkeitsstudie an. »Aber das ist so unkonkret, dass wir kein Vertrauen haben, dass in dieser Legislatur irgendetwas umgesetzt wird«, so Ketelsen. »Wir sehen ja, dass es in anderen Ländern geht, da braucht es keine Studie mehr.«

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