Journalismus: Zu wenig Geld, zu wenig Ego

Den Journalismus hat der Mut verlassen

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.

Als ich Kind war, hatte mein Vater die »FAZ« im Abo. Die Samstagsausgabe mit ihrem backsteindicken Stellenanzeigenteil passte nie in den Briefkasten. Die Lokalzeitungen blähten sich am Wochenende ebenfalls auf. Immobilien- und Autoannoncen füllten Seite um Seite. Auch bei den Illustrierten boomte das Anzeigengeschäft. Bei den Auflagenmillionären »Stern« und »Spiegel« hielten sich redaktionelle Inhalte und Reklame nahezu die Waage. Die Flut an Werbung ließ ein 160-Seiten-Magazin zu einem 300-Seiten-Katalog anschwellen.

Dank sprudelnder Einnahmen musste kein Journalist darben. Der »Stern« leistete sich über Jahre hinweg den Luxus, mehr Texte in Auftrag zu geben, als benötigt wurden. Welche der hochbezahlten Artikel am Ende rausflogen, entschied Chefredakteur Henri Nannen persönlich. Ein teurer Spaß. Doch an Geld mangelte es nicht. Legendär ist jene Geschichte des ersten deutschen »Playboy«-Textchefs, der sich in Paris eine zweite Wohnung kaufte, weil in der ersten kein Platz mehr für seine Kunstsammlung war. Man darf bezweifeln, ob sich heutige Textchefs zwei Wohnungen in Paris leisten können, geschweige denn eine Kunstsammlung.

Es waren paradiesische Zustände, damals in den 70er, 80er und 90er Jahren. Man verdiente gut und glaubte, es verdient zu haben. Der New Journalism, der sich mit der Zeitschrift »Tempo« seit 1986 auch in Westdeutschland breitmachte, brachte eine neue Generation von Schreibern hervor. Menschen, die aus der Ich-Perspektive erzählten und ihr eigenes Leben zum Maß der Dinge erhoben. Objektivität war langweilig und verlogen (weil man zwischen den Zeilen ja doch herauslas, was ein Autor dachte), Subjektivität war aufregend und ehrlich. Dem konnten sich in den späten 90ern auch etablierte Blätter nicht länger entziehen. Allmontäglich bot das »jetzt«-Magazin der »Süddeutschen Zeitung« jungen Autoren ein Forum, in dem sie sich austoben konnten. Die altehrwürdige »FAZ« entdeckte auf ihren »Berliner Seiten« das Hipstertum. Und der »Spiegel« brachte monatlich den »Spiegel Reporter« heraus, der irgendwie lockerer war, entspannter, offener.

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Dass solche Vorzeigeprojekte Zuschussgeschäfte waren, störte keinen großen Geist. Die roten Zahlen wurden durch das Kerngeschäft mehr als kompensiert. Ja, da gab es jetzt dieses neue Ding namens Internet. Als ich 1998 als Werbetexter anfing, ermahnte mich mein Chef, ich solle das World Wide Web meiden, weil die Minutenpreise exorbitant seien. Lieber spendierte er mir für die Recherche eine vielbändige Brockhaus-Ausgabe; die werde auf Dauer günstiger kommen. Welch kolossale Fehleinschätzung! Bereits 1999 kamen Flatrate-Tarife auf. Und als Boris Becker in einem AOL-Werbespot fragte: »Bin ich schon drin?«, war absehbar, dass das Internet ein Massenphänomen werden würde.

Der Konsequenzen jedoch waren sich Zeitungen und Zeitschriften nicht bewusst. Da sie in dem neuen Medium nur eine Art Service sahen, stellten sie ihre Inhalte bis weit in die Nullerjahre hinein kostenlos online – so verzieht man seine Leserschaft. Denn die begriff schnell: Warum für ein Druckerzeugnis zahlen, wenn es im Netz alles für umme gab! In der Folge gingen die Auflagen auf Talfahrt. Noch verheerender waren die Einbußen im Anzeigengeschäft. Unternehmen brauchten nicht länger teure Inserate zu schalten, wenn das gleiche Ergebnis im Internet für einen Bruchteil der Kosten möglich war. Dadurch fehlten wichtige Einnahmen. Einsparungen und Entlassungen waren die Folge.

Als Erstes wurden die Leuchtturmprojekte geopfert. »Spiegel Reporter« wurde 2001 eingestellt. Da prognostizierte der Zukunftsforscher Matthias Horx noch gewohnt irrlichternd: »Internet wird kein Massenmedium.« 2002 traf es die »Berliner Seiten« der »FAZ« sowie das »jetzt«-Magazin der »Süddeutschen Zeitung«. Danach ging es ans Eingemachte. Den Anfang machten Lokalzeitungen, die ihre überregionale Berichterstattung zusammenlegten. Am Ende erwischte es die Flaggschiffe. Als der »Stern« Anfang 2021 ankündigte, sein »Politik und Wirtschaft«-Ressort in Hamburg sowie sein Hauptstadtbüro aufzulösen, da war dies, als würde der Papst zum Atheismus aufrufen.

Kein Wunder, dass das Selbstwertgefühl der Branche gelitten hat. Psychologisch betrachtet ist diese Schrumpfkur eine einzige Niederlagenserie. Diese wird als umso bitterer empfunden, weil der Absturz unmittelbar auf den Höhenrausch folgte. Es waren die 90er – das Jahrzehnt nach dem Mauerfall –, als der Westen und jene, die für ihn berichteten, vor lauter Siegestaumel kaum noch gehen konnten. Der Hochmut resultierte daraus, dass man kein einzelnes Land, sondern ein ganzes System besiegt hatte. Der jahrzehntelange Wettstreit zwischen Kapitalismus und Realsozialismus war in einem Kantersieg geendet. Der Westen hatte triumphiert. Als Master of the Universe musste er niemanden mehr fürchten, Saddam Hussein nicht und die wenigen verbliebenen Kommunisten schon gar nicht.

Diese Selbstüberschätzung zeigte sich nirgendwo deutlicher als im Fernsehen. Wer heute die angesagten Sendungen jener Zeit sieht, zum Beispiel »Die Harald Schmidt Show« und »TV Total«, der staunt, wie da verbal losgeholzt wurde. Während in akademischen Milieus über politische Korrektheit – den zahmen Vorläufer der Wokeness – diskutiert wurde, ließen Harald Schmidt und Stefan Raab keinen Zweifel daran, was sie von solchen Sensibilitäten hielten. Es war ein Festival der Häme, das sich über unterschiedlichste Gesellschaftsgruppen und Nationalitäten ergoss. Doch das Publikum ging begeistert mit. Der gelegentliche Schwenk in die Zuschauerreihen zeigt bestens gelaunte Menschen, die garantiert keinen Gedanken daran verschwendeten, ob sich irgendjemand durch beleidigende Sprüche herabgewürdigt fühlte.

Die Zeitenwende, die mit dem neuen Jahrtausend einsetzte – erst der Zusammenbruch des Neuen Markts, dann die Attentate vom 11. September –, traf den Westen unerwartet. Zeitgleich endeten die fetten Jahre des Journalismus. Die Branche, die jahrzehntelang im Geld geschwommen war, hatte nie gelernt, mit finanziellen Einschnitten umzugehen. Die neue Bescheidenheit wurde als Schmach empfunden. Dass derartige Tiefschläge einen stärker werden lassen, hielt der Journalist Gerhard Spörl bereits 1996 für Wunschdenken. Am Beispiel Hans-Jochen Vogels beschrieb er, was eine Schlappe anrichtet: »In Wahrheit schwächen solche Niederlagen, vor allem die allerersten. Sie rauben den Schwung, die Unbedingtheit und Sicherheit. Sie zwingen entweder zur Vorsicht oder schreien nach Genugtuung.«

Und das ist nicht gut für den Journalismus. Dieser braucht Menschen, die »sagen, was ist« (Rudolf Augstein). Dem selbstbewussten Reporter der 90er fiel das leicht. Die Welt lag ihm zu Füßen. Er konnte die Dinge von oben betrachten und aufschreiben, was er sah. Die Texte, die dabei entstanden, mochten bisweilen hochmütig klingen. Doch störte das die Leser nicht weiter, da diese selber bisweilen hochmütig aufs Leben blickten.

Dem heutigen Journalisten ist diese Attitüde fremd. Er ist verunsichert, hat Angst. Das bringt Reporterdarsteller wie Claas Relotius hervor. Fälscher hatte es immer schon gegeben. Doch war es das Bestreben von Lügenbaronen wie Tom Kummer gewesen, die Welt aufregender darzustellen, als sie war. Relotius hingegen schrieb so, wie er glaubte, dass die Leser die Welt gerne hätten. Das Ergebnis waren Texte, die stilistisch Kitsch und inhaltlich Klischee waren. Dass er mit diesen Holzschnitt-Reportagen bei seinen Chefs und den Preisrichtern der Branche offene Türen einrannte – darin liegt der eigentliche Skandal. Wenn es im Marketingsprech von Zeitungen und Zeitschriften immer öfter heißt, man müsse »die Zielgruppe bedienen«, dann versteht man auf einmal, warum Relotius’ Märchen jahrelang unerkannt blieben – er bediente perfekt die Zielgruppe.

Das kommt mir bekannt vor. Als Werbetexter weiß ich, wie man zielgruppenspezifische Texte verfasst. Doch diese Art des Schreibens hat im Journalismus nichts verloren. Dort wünsche ich mir Menschen, die ohne Schere, also ohne Zielgruppe im Hinterkopf schreiben. Selbstbewusste Autoren, die notieren, was sie sehen und nicht, was ihre Leser vielleicht sehen wollen. Es müssen ja nicht gleich solche Kotzbrocken wie in den 90ern sein.

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