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Warum sich die Bahngewerkschaft auf eine Schlichtung einlässt

Unter Linken ist die Schlichtung von Tarifkonflikten unbeliebt: Was ist dran am Vorwurf Streikverhinderungsinstrument?

Kein Bahnstreik in den Sommerferien! Die Nachricht sorgte bei vielen für Erleichterung. Ab Montag nun suchen die Arbeitsrechtlerin und ehemalige Landespolitikerin Heide Pfarr (SPD) und der frühere CDU-Bundesinnenminister Thomas de Maizière als Schlichter nach einer Lösung in dem seit Monaten andauernden Tarifstreit zwischen der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) und der Deutschen Bahn. Ein Schlichtungsergebnis soll bis spätestens 31. Juli vorliegen. Bis dahin gilt eine »Friedenspflicht«. Die EVG will aber auch danach, bis zum Abschluss der Urabstimmung Ende August nicht streiken. Beruhigend für Bahnreisende. Doch auch für Bahnbeschäftigte? Warum gehen Gewerkschaften in die Schlichtung, statt mit Streiks Druck zu machen?

Der Vorschlag für eine Schlichtung kam vom Bahnvorstand. Die EVG hätte darauf nicht eingehen müssen. Und stattdessen wie geplant in die Urabstimmung für einen unbefristeten Streik eintreten können. Anders als im öffentlichen Dienst oder in der Baubranche gibt es bei der Deutschen Bahn keinen »Einlassungszwang«, also eine Schlichtung, die eine Seite diktieren kann.

Die EVG begründet ihre Zustimmung mit Rücksicht auf die Reisenden, die sie in der Urlaubszeit nicht belasten will. Zudem soll damit Interesse an einem baldigen Abschluss signalisiert werden. »Die Schlichtung kann ein Mittel sein, um Zeit zu gewinnen«, erläutert Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler dem »nd«. Zum Beispiel, weil die Sommerferien vor der Tür stehen, was die eigene Mobilisierung erschwert. Er sieht aber noch einen weiteren Grund: »Streiks, die viele Menschen treffen, wie bei der Bahn, werden immer auch in der Öffentlichkeit gewonnen.« Und in der Ferienzeit kippt die Stimmung schnell.

Es gibt in Deutschland unterschiedliche Regeln für Schlichtungen in Tarifkonflikten. Sie können wie im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen in einem Schlichtungsabkommen festgeschrieben sein oder ad-hoc nur für eine Tarifrunde vereinbart werden wie jetzt bei der Bahn. Neben dem Einlassungszwang besteht ein Hauptunterschied in der Frage, ob während der Schlichtung gestreikt werden darf oder nicht. Nach der seit 2011 geltenden Schlichtungsvereinbarung für den öffentlichen Dienst sind Arbeitsniederlegungen dort ausgeschlossen, beim Rundfunksender RBB etwa liefen Warnstreiks auch während der Schlichtung weiter.

So unterschiedlich die Regelungen sind, eines haben sie gemeinsam: Sie sind eine freiwillige Entscheidung der Tarifparteien. Damit auch kündbar und veränderbar. Eine staatliche Zwangsschlichtung wie in der Weimarer Republik gibt es nicht mehr. Auch wenn sich das manche Streikgegner wünschen würden.

Durch eine Schlichtung geben die Tarifparteien dennoch die Steuerung ab. Neutrale Dritte, oft ehemalige oder amtierende Spitzenpolitiker, die dadurch besondere Autorität mitbringen, sollen richten, was sie selbst nicht hingekriegt haben, etwa weil der Konflikt festgefahren ist. Nach Einschätzung von Däubler kann darin aber auch ein taktisches Moment liegen. Er will Schlichtungsverfahren nicht verteufeln, hat selbst ein paar Mal Tarifkonflikte geschlichtet, bei der Bremer Spielbank oder vor Jahren beim RBB. Aber die Verschiebung von Verantwortung kann auch nützlich sein: »Was von fremder Seite vorgeschlagen wird, können die Verhandlungsführer besser gegenüber ihrer Mitgliedschaft verkaufen«, erklärt der Jurist. »Das Ergebnis lässt sich leichter durchsetzen.« Anders gesagt: Kröten schlucken sich so leichter. Das gilt freilich für beide Seiten, Gewerkschaften wie Arbeitgeber.

Einen Schlichterspruch kann man nur schwer beiseiteschieben. Wer eigentlich auf die Barrikaden will, für den liegt genau darin das Problem. Unter linken Gewerkschaftern sind Schlichtungen daher weniger beliebt. Sie gelten als »Streikverhinderungsinstrument«. Nach Däublers Meinung haben Arbeitgeber daran grundsätzlich mehr Interesse. Das schließt aber nicht aus, dass es Schlichtersprüche geben kann, die Gewerkschaften gefallen, Arbeitgebern jedoch nicht. So waren es bei den Verhandlungen zum Baumindestlohn 2022 zuletzt die Arbeitgeberverbände, die den Schlichterspruch ablehnten. Weil sich die IG BAU für einen Erzwingungsstreik nicht stark genug fühlte, gibt es seitdem keinen Branchenmindestlohn mehr.

Aber auch auf der Gewerkschaftsseite sieht er Gründe. Da wären zum einen die Kosten: »Streik ist teuer.« Und außerdem seien Gewerkschaften hierzulande »ja auch nicht zuvorderst auf Kampf gepolt«.

Ohne Zweifel können Schlichtungen in hochgekochten Tarifkonflikten demobilisierend wirken. Der Tarif- und Arbeitskampfexperte Heiner Dribbusch präzisiert: »Wenn wie im öffentlichen Dienst die Schlichtungsvereinbarung sowohl einen Einlassungszwang als auch eine Friedenspflicht vorsieht, durchbricht die Anrufung der Schlichtung die Dynamik des Arbeitskampfs. In der diesjährigen ÖD-Runde war damit zunächst einmal der Stecker gezogen.«

Verdi-Aktive hatten in diesem Jahr auf einen Erzwingungsstreik gehofft. Es wäre der erste nach 30 Jahren gewesen. Die große Beteiligung an den Warnstreiks wie auch neue Ansätze wie der erstmalige gemeinsame Streik mit der EVG, der den öffentlichen Verkehr an einem Tag bundesweit lahm legte, sprachen für eine gewachsene Konfliktbereitschaft. Dass man sich dann doch mit dem Schlichtungsergebnis zufrieden gab, statt einen unbefristeten Streik zu wagen – bei Verdi grummelt es deshalb auch Wochen nach der ÖD-Runde. Mit Streik wäre mehr drin gewesen – diese Behauptung lässt sich aber nun einmal schlecht beweisen. Die Mehrzahl der Verdi-Verantwortlichen rechnete offenkundig nicht damit, dass sich das Ergebnis deutlich toppen lässt. Eine große Mehrheit in der Bundestarifkommission stimmte für die Annahme des Schlichterspruchs, in der Mitgliederbefragung gab es 66 Prozent Zustimmung. Begeisterung sieht anders aus. Das meint auch Dribbusch. »Aber umgekehrt, große Kampfesstimmung auch.« Wie die Stimmung ausgesehen hätte, wäre die Führung auf die Barrikaden gegangen? Wer will das wissen?

Gut möglich, dass das Schlichtungsabkommen im öffentlichen Dienst beim kommenden Gewerkschaftstag Thema wird. Es wäre nicht das erste Mal. »Besonders der Einlassungszwang ist bei Verdi seit Jahren umstritten«, sagt Dribbusch dem »nd«.

Der Zwang in die Schlichtung kann Stärke und Dynamik zerstören. Was an einer Stelle einschränkt, kann unter anderen Bedingungen aber auch Räume eröffnen. »Wenn eine Gewerkschaft schwach ist oder bei besonders schwierigen Verhandlungsgegenständen muss ein Einlassungszwang auch nicht immer verkehrt sein«, erklärt Dribbusch. Er zwingt die Arbeitgeberseite wenigstens erstmal an den Verhandlungstisch.

Im Grunde ist die Frage der Schlichtung auch eine nach dem Weg gesellschaftlicher Veränderung. Mit Streiks verbindet sich die Hoffnung auf einen klassenkämpferischen Aufbruch. Auch Dribbusch stimmt zu, dass Streiks das gewerkschaftliche Bewusstsein stärken können. »Vor allem, wenn die Beschäftigten das Gefühl haben, dass es ihr Streik ist und sie mitreden können.« Aber er sieht darin keinen Automatismus. »Wer streikt, hat nicht immer das bessere Tarifergebnis. Niederlagen können auch zu Resignation führen.«

Ebenso wenig gelte: Je länger, desto besser. »Eher im Gegenteil: Wenn die andere Seite nach einer Woche nicht wackelt, tut sie es häufig auch nach fünf Wochen nicht.« Dribbusch erinnert an einen der härtesten Tarifstreits in der Geschichte von Verdi. In dem vierwöchigen Dauerstreik gegen die Deutsche Post 2015 sei bald klar gewesen, dass das Management nicht bereit war, die Kernforderung von Verdi zu erfüllen, die Ausgliederung großer Teile der Paketzustellung rückgängig zu machen. Am Ende komme es auf die konkreten Kräfteverhältnisse an und darauf, was beide Seiten bereit sind, in den Arbeitskampf zu investieren. Dribbusch unterstreicht beide Seiten: »Verlauf und Ende von Arbeitskämpfen werden nicht allein von den Streikenden und ihren Gewerkschaften bestimmt.«

Ist mit Schlichtungsbeginn bei der Bahn der Tarifkonflikt also quasi gelaufen? Wahrscheinlich. Allerdings muss das Schlichtungsergebnis in einer Urabstimmung bei den Mitgliedern bestehen. Fällt es durch, hat die EVG für den Herbst unbefristete Streiks in Aussicht gestellt. Die Gewerkschaft hat damit einer zu weitgehenden Schlichtungsdynamik Grenzen gesetzt. »Wenn sich bei der Urabstimmung 75 Prozent unserer teilnehmenden Mitglieder für einen unbefristeten Arbeitskampf aussprechen, werden wir das Schlichtungsergebnis nicht akzeptieren und weiterkämpfen«, erklärt Verhandlungsführerin Cosima Ingenschay. Das ist ein hohes Quorum. Andererseits braucht ein Streik auch breite Unterstützung, damit er nicht mit einer Niederlage endet.

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