Die lange Ächtung »urnischer« Liebe

Der Sexualhistoriker Benno Gammerl schreibt eine Geschichte der queeren Bewegung in Deutschland seit dem Kaiserreich. Dabei wird deutlich: Auf erkämpfte Fortschritte folgten immer wieder auch homophobe Rückschläge

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.
Lesbisches Leben im frühen 20. Jahrhundert: Screenshot aus dem Dokumentarfilm »Verzaubert« (1993), der ebenfalls eine Geschichte der Homosexualität präsentiert
Lesbisches Leben im frühen 20. Jahrhundert: Screenshot aus dem Dokumentarfilm »Verzaubert« (1993), der ebenfalls eine Geschichte der Homosexualität präsentiert

Die Debatte um das von der Ampelkoalition angestrebte Selbstbestimmungsgesetz, das vor allem Transsexuelle besser stellen soll, steht in der Tradition einer schrittweisen Entkriminalisierung gender-nonkonformer Lebensweisen. Denn erst 1994 wurde der Paragraf 175, der Sex zwischen Männern mehr als ein Jahrhundert lang unter Strafe gestellt hatte, im vereinigten Deutschland endgültig aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch gestrichen. In der ehemaligen DDR galt deutlich früher eine liberalere Regelung, dort wurde die juristische Verfolgung von Homosexuellen bereits 1968 beendet.

2001 führte die damalige rotgrüne Bundesregierung die Möglichkeit zur eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Beziehungen ein. 2002 wurden, mehr als überfällig, sämtliche Urteile aus nationalsozialistischer Zeit gegen schwule Männer aufgehoben. Seit 2006 können sich Betroffene mit Hilfe des Antidiskriminierungsgesetzes gegen Benachteiligungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung wehren. 2017 beschloss der Deutsche Bundestag, gegen den ausdrücklichen Willen von Kanzlerin Angela Merkel, aber dennoch auch mit einzelnen Stimmen aus ihrer CDU/CSU-Fraktion, die »Ehe für alle«. Legalisierte Verbindungen schwuler oder lesbischer Paare sind seither kaum etwas Besonderes mehr. In Politik und Wirtschaft, im Sport und schon länger im Kulturleben hat Homosexualität das ihr lange anhaftete Image des Anrüchigen und Randständigen weitgehend verloren.

Steiniger Weg

Im Januar 2023 standen bei der jährlichen Holocaust-Gedenkveranstaltung des Bundestages zum ersten Mal jene Opfer im Mittelpunkt, die von den Nationalsozialisten wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden. Dieser erinnerungspolitische Erfolg verdankt sich insbesondere dem beharrlichen Insistieren queerer Bewegungen. Er musste gegen teils heftige Widerstände vor allem konservativer Abgeordneter durchgesetzt werden – und bedeutete einen weiteren Schritt nach vorn, der zur gesellschaftlichen Akzeptanz von geschlechtlicher Vielfalt beigetragen hat.

Die sexualpolitischen Reformen der letzten Jahrzehnte lassen leicht vergessen, wie steinig der Weg zu diesen Errungenschaften war. Damit beschäftigt sich das gerade erschienene Buch des Historikers Benno Gammerl. Seine Übersicht über die queere Geschichte in Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert füllt eine Forschungslücke. Die Darstellung macht deutlich, dass es sich keineswegs um einen kontinuierlichen Prozess stetiger Verbesserungen zugunsten der Homo- und Transsexuellen handelte. In sieben inhaltsreichen, aber relativ knapp gehaltenen Kapiteln beschreibt der Autor einen vielgestaltigen und uneindeutigen Prozess, das ständige Auf und Ab der letzten 150 Jahre. So folgte etwa auf den Liberalisierungsschub der Weimarer Republik die faschistische Unterdrückung, auf die zweite Emanzipationswelle der 70er Jahre ein erneuter Rückschlag durch die Stigmatisierung von Schwulen in der Debatte um die Aids-Infektionen.     

Weitgehend unbekannt ist bislang, dass sich schon im deutschen Kaiserreich Ansätze einer Homosexuellenbewegung formiert haben. Gegen Widerstände vor allem aus christlichen Kreisen riefen die damals noch sehr isoliert tätigen Aktivisten dazu auf, schwule und lesbische Orientierungen nicht mehr als sündhaft, kriminell oder krank zu verachten. 1864, sieben Jahre vor der Aufnahme des berüchtigten Paragrafen 175 in das Strafgesetzbuch, veröffentlichte der Jurist Karl-Heinz Ulrichs eine Aufklärungsschrift über die von ihm so genannte »urnische Liebe«. Der Begriff bezog sich auf die griechische Göttin Aphrodite, die dem Mythos zufolge aus den abgetrennten Geschlechtsteilen ihres Vaters Uranos und dem Meerschaum entstiegen war. Als Symbol für eine »nicht heterosexuelle Form der Fortpflanzung«, so schildert es Buchautor Gammerl, sei die antike Figur zu einer »Patronin« gleichgeschlechtlicher Beziehungen avanciert.

Der NS und seine Kontinuitäten

Auch der Mediziner Magnus Hirschfeld engagierte sich früh für die Entkriminalisierung nonkonformer Lebensweisen. Schon 1904 hatte er ein Buch mit dem Titel »Berlins drittes Geschlecht« veröffentlicht, nach dem Ersten Weltkrieg gründete er mit seinen Mitstreitern am Rande des Tiergartenviertels das innovative Institut für Sexualforschung. Queere Debatten um die Auflösung bipolarer Genderrollen sind also keineswegs eine neuere Entwicklung, es gab sie schon vor über hundert Jahren. Schwule und lesbische Subkulturen erlebten in der Weimarer Republik eine erste Blüte, allerdings eng begrenzt auf das Nachtleben der großen Städte.

Die Nationalsozialisten verfolgten gleichgeschlechtlich orientierte Menschen mit unerbittlicher Härte. Viele Betroffenen landeten in den Konzentrationslagern oder wurden ermordet. Hirschfelds sexualwissenschaftliches Institut, das sich neben seiner umfangreichen Forschungs- und Beratungsarbeit auch als Anlaufstelle und Fluchtpunkt für Verfolgte sowie als Zentrum der politischen Agitation für Homosexuellenrechte verstand, wurde 1933 sofort geschlossen. Heute erinnert eine Gedenktafel am Spreeufer an die Verdienste des Gründers.

Auch in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende der Nazi-Herrschaft blieb queeres Leben gefährlich. In der Nachkriegszeit gedieh es vor allem im Westen Deutschlands nur im Verborgenen. Die sexualpolitischen Neuerungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse der Weimarer Zeit wurden in dieser Phase kaum noch rezipiert. Die vor und nach dem Ersten Weltkrieg wegweisende deutsche Sexualforschung verlagerte sich ins Ausland, vor allem in die Vereinigten Staaten. In den 50er Jahren griff der US-Amerikaner Alfred Kinsey in seinen empirischen Studien auf Hirschfelds Befragungsmethoden zurück.       

Benno Gammerl, der nach Stationen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und am Goldsmiths College in London heute als Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrt, bewertet die Weimarer Zeit ambivalent. Man werde dieser in queeren Kreisen häufig idealisierten Epoche nicht gerecht, wenn man sie einseitig zu den »goldenen Zwanzigern« verkläre. Denn neben der schwulen Subkultur gab es stets auch »homo- und transfeindliche Gewalt, Zensur und andere Hürden«. Dem »sexualdemokratischen Aufbruch« stellten sich gerade im ländlichen Raum »starke Gegenkräfte« und »feindselige Einstellungen der gesellschaftlichen Mehrheit« entgegen. Diese Ressentiments unterstützten und erleichterten die nach 1933 einsetzende Verfolgung von Homo- und Transsexuellen durch das nationalsozialistische Regime.   

Homophobe Aids-Hysterie

In der Nachkriegszeit, so erzählt es Gammerl in seiner Rückschau, habe sich die Stigmatisierung gender-nonkonformer Lebensweisen zunächst »beinahe nahtlos« fortgesetzt. Die von den Nazis noch verschärfte Fassung des Paragrafen 175 blieb in der Bundesrepublik unverändert bestehen. Die DDR kehrte immerhin zu der weniger strengen Version der Weimarer Republik zurück, doch auch sie verweigerte homosexuellen Opfern des NS-Staates Rehabilitierung und Entschädigungen. Erst nach der Studentenrevolte 1968 begann in Westdeutschland eine echte sexualpolitische Liberalisierung. Nochmals zurückgeworfen durch die homophobe Aids-Hysterie der 1980er Jahre entstand in langsamen Schritten ein toleranteres gesellschaftliches Klima, das schließlich zum Abbau von Diskriminierungen und zur heute weitgehend umgesetzten juristischen Gleichstellung homosexueller Beziehungen führte.

In seinem Schlusskapitel über die »Perspektiven queerer deutscher Geschichte« verweist der Autor auf einen »Dorfpride« am 14. Juli 2022 in der baden-württembergischen Kleinstadt Ladenburg. Diese schwul-lesbische Parade im ländlichen Raum sei »wohlwollend bis begeistert begleitet« worden, so etwas »hätte es unter Adenauer nicht gegeben«. Für Benno Gammerl ist das ein ermutigendes Beispiel, wie »offen und selbstverständlich sich queere Menschen heute in den meisten Gegenden Deutschlands bewegen können«. Die Geschichte der Sexualpolitik hält er für »mehr als ein reizvolles Dekor am Rande, das man hinzufügt, ohne dass sich am Gesamtbild etwas Wesentliches ändert«. Vielmehr erweitere der Blick auf queere Erfahrungen und Erinnerungen das allgemeine historische Verständnis, ohne die Einbeziehung dieser Perspektive bleibe die Betrachtung der deutschen Vergangenheit »unvollständig«. Zur Einordnung der aktuellen politischen Kontroversen um die vollständige rechtliche Anerkennung sexueller und geschlechtlicher Vielfalt liefert sein Buch wertvolle Impulse.                                                               

Benno Gammerl: Queer. Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute. Hanser, 272 S., geb., 24 €.

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