Grüne Sehnsuchtsorte im Havelland – mit dem Rad entdeckt

Abseits der viel befahrenen Fernradstrecken laden geschichtsträchtige Oasen zur Zeitreise in vergangene Jahrhunderte ein

  • Ulrike Wiebrecht
  • Lesedauer: 5 Min.
Idyllisch: das Havelland
Idyllisch: das Havelland

Tiefrote Rosen, duftende Kräuter, Schatten spendende Rot- und Hainbuchenhecken, mittendrin ein Wasserbecken, in dem sich die gelbe Fassade des Herrenhauses spiegelt: Der märkische Gutsgarten von Schloss Kleßen ist schon eine besondere Augenweide. Stille deine Sehnsucht, lautet der Slogan des Havellands. Mit ihm wirbt der Tourismusverband im Schloss Ribbeck. Aber viel mehr noch als Ribbeck, das sich an manchen Tagen vor Besuchern gar nicht retten kann, lädt Kleßen dazu ein, eine Sehnsucht – wonach auch immer – zu stillen.

Zumindest ist es hier meist still. Vor allem wochentags hat man den Garten fast für sich allein. Kann ganz nach Belieben über Streuobstwiesen oder unter der berankten Pergola flanieren, sich auf einer Bank niederlassen und versuchen sich vorzustellen, was sich hier im Lauf der Jahrhunderte alles abgespielt hat. Als das Herrenhaus noch ein Rittergut war, das im 18. Jahrhundert erst im barocken, 1858 im klassizistischen Stil überformt wurde. Als hier die Adelsfamilie von Bredow residierte, bis Joachim von Bredow schließlich Konkurs anmelden und das Schloss in den 1930er Jahren veräußern musste. Oder als hier nach dem Zweiten Weltkrieg Flüchtlingsfamilien einquartiert wurden und das Gebäude später als Behelfskonsum und Dorfkino fungierte.

Es ist viel passiert, bevor Sabine Thiedig und ihr Mann um 1993 herum auf einer Reise durchs Havelland hier vorbeikamen. »Es war Liebe auf den ersten Blick«, erinnert sich die heutige Schlossherrin, »auch wenn das Herrenhaus eher Ruine war.« Mit der Hilfe von Architekten, Kunsthistorikern und guten Handwerkern machten sie aus dem denkmalgeschützten Gebäude und dem verwilderten Garten ein Kleinod, das heute die Kulisse für Konzerte der Havelländischen Musikfestspiele, private Feiern und Auszeiten in ländlicher Abgeschiedenheit abgibt.

Tipps
  • Die Fahrradtour von Friesack nach Nennhausen ist ca. 50 Kilometer lang und nur teilweise markiert. Sie führt über Görne, Haage, Senzke, Kriele, Kotzen und Stechow nach Nennhausen. Anfahrt mit der Regionalbahn RE8, Rückfahrt ab Nennhausen mit RE4.
  • In Kleßen sind der Gutsgarten, das Spielzeug- und das Kinderbuchmuseum von Mittwoch bis Sonntag 11 bis 17 Uhr, das Schloss nur vereinzelt zu Konzerten geöffnet. In Nebengebäuden wie dem Pfauenhaus kann man auch übernachten (Fewo ab 80 Euro). www.schloss-klessen.de
  • Der Landschaftspark in Nennhausen ist ganzjährig täglich geöffnet, das Schloss nur für Veranstaltungen. Am 6. August findet hier ein Picknickkonzert, am 27. August eine Lesung und am 21. Oktober ein Konzert der Havelländischen Musikfestspiele statt. Bis 1. Oktober zeigt der Kulturverein sonntags von 14.30 bis 17.30 Uhr eine Ausstellung über de la Motte Fouqué im Gärtnerhaus – mit Kaffee und frisch gebackenem Kuchen. Zum Übernachten steht eine Ferienwohnung in der Orangerie bereit (pro Nacht 80 Euro).
    www.schloss-nennhausen.de

Gleich gegenüber von Wasserturm und Pfauenhaus versetzt einen auch das Havelländische Spielzeugmuseum in der ehemaligen Dorfschule in die Zeiten zurück, als es noch keine Playstation gab und stattdessen Ritterburgen, Kaufmannsläden oder Modelleisenbahnen Kinderaugen zum Leuchten brachten. Seit 2020 gesellt sich noch ein Kinderbuchmuseum mit Raritäten der Sammlung Thiedig aus drei Jahrhunderten dazu – von Jugendstilbüchern über Klassiker wie »Peterchens Mondfahrt« bis hin zu seltenen Exemplaren aus den Anfängen des Kinderbuchs um 1714.

Es gibt also genug Gründe für einen Besuch in Kleßen. Man muss nur erst mal hinkommen. Was ohne Auto nicht ganz einfach ist. Gute Alternative ist das Fahrrad. Der nächste Bahnhof in Friesack ist schließlich kaum zehn Kilometer entfernt. Wobei zu Sabine Thiedigs Bedauern bekannte Strecken wie der Havel- oder Havellandradweg einen weiten Bogen um Kleßen machen. So kommt hier keiner zufällig vorbei. Dafür kann man hier umso ungestörter in die Pedale treten und zu einer spannenden Entdeckungsreise starten, wenn man bereit ist, auf eine gut ausgebaute, markierte Strecke zu verzichten und sich seinen eigenen Weg durchs Westhavelland zu bahnen. Im Zweifelsfall helfen einem die freundlichen Mitarbeiter des Spielzeugmuseums weiter.

Wie wäre es zum Beispiel mit einem Abstecher nach Senzke, wo das Fintelmannhaus, ein denkmalgeschütztes Fachwerkgebäude von 1701, an die Zeit erinnert, als hier Joachim Heinrich Fintelmann, Hofgärtner der von Bredows, wohnte? An manchen Tagen öffnet es sich auch schon mal für Lesungen oder Ausstellungen. Anders als das Herrenhaus, das in der Nachbarschaft steht. »Die Besitzer schotten sich ab«, bedauert der Mitarbeiter vom Spielzeugmuseum. Frei zugänglich sei indessen der große Landschaftspark von Nennhausen, der weiter südlich liegt. Dort gebe es auch einen Bahnanschluss nach Berlin. Aber wie kommt man hin? »Am besten über Görne und Haage«, empfiehlt der Ortskundige. »Da hat man zwar unterwegs einen Kilometer Sandweg, wo man meist schieben muss. Dafür ist in Haage das einzige Gasthaus weit und breit.« Ein überzeugendes Argument, zumal das Gartencafé in Kleßen mangels Personal zurzeit geschlossen bleibt.

Auf einsamen Feld-, Wald- und Wiesenwegen geht es vom Spielzeugmuseum aus an lauter Orten vorbei, in denen es noch viel stiller ist als in Kleßen. An Dickte zum Beispiel. Oder Görne mit seiner schönen Dorfkirche. Den rechteckigen Fachwerkbau von 1728 kann man schwer übersehen, man muss ihn auf der Mühlenstraße umfahren, um zur B188 zu gelangen. Dort zweigt dann links der besagte Sandweg durch den Wald ab. Er ist tatsächlich ziemlich holperig. Doch in Haage angekommen kann man sich auf der Terrasse oder im Biergarten vom »Deutschen Haus« davon erholen. Die zweite Etappe führt von da aus nach Senzke, dann folgt man dem ausgeschilderten Havellandradweg, der über Kriele und Kotzen nach Rathenow führt. Kurz vor der Optikstadt biegt man in Stechow nach Nennhausen ab.

Auch dieser Ort wirkt erst mal völlig unscheinbar. Etwas Leben kommt nur an der Dorfstraße auf, wo ein fahrbarer Imbiss Döner, Gyros und Bratkartoffeln verkauft. Dreht man sich um und läuft ein paar Meter weiter, steht man plötzlich vor einem stattlichen Schloss. Noch so ein verwunschenes Anwesen!

Mehr noch als Kleßen hat es mit seinem englischen Landschaftsgarten etwas Märchenhaftes. Kein Wunder, dass der romantische Dichter Friedrich de la Motte Fouqué hier auch um 1811 sein Märchen »Undine« schrieb, das Vorbild für Walt Disneys »Kleine Meerjungfrau« wurde. Die könnte jederzeit aus einem der Teiche aufsteigen, die zwischen Wiesen und jahrhundertealten Eichen durchschimmern.

Auch andere Literaten wie Adalbert von Chamisso oder E. T. A. Hoffmann wandelten durch den Landschaftsgarten, wenn sie auf dem Musenhof zu Gast waren. »Mein Liebster de la Motte Fouqué, Ihre liebe, freundliche Einladung, nach Nennhausen hinauszukommen und daselbst den Lenz aufblühen zu sehen, reizt mich mehr, als ich es sagen kann«, schrieb Heinrich von Kleist 1811 in einem Brief an den Dichterkollegen. An die illustren Gäste erinnern große terrakottafarbene Keramikmedaillons, die an einigen Bäumen baumeln. Mehr über den Musenhof ist in einer der Ausstellungen zu erfahren, die der Kulturverein bis Oktober an jedem Sonntagnachmittag im Gärtnerhaus zeigt – einschließlich fünf Bühnenbilder der Oper »Undine«.

Das Schloss selbst, das in Privatbesitz ist, steht leider nur hin und wieder bei Konzerten oder Lesungen für Besucher offen. Der Park ist immerhin ganzjährig geöffnet, sodass man hier Tag für Tag spazieren gehen, den unterschiedlichen Sichtachsen nachspüren und sich zu einem Picknick unter altehrwürdigen Eichen niederlassen kann. Vorausgesetzt, man hat sich vorher etwas eingepackt. Sonst kann man zumindest seine Sehnsucht stillen.

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