Fremdeln auf Französisch

Olivier David über die Beschäftigung mit einem Teil seiner vergrabenen Identität

  • Olivier David
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich bin Halbfranzose. Lange Zeit habe ich diesem Umstand nicht viel Bedeutung beigemessen. Ich beherrsche die Sprache nicht (oder nur ungenügend). Ich habe meinen Nachnamen Deutsch ausgesprochen statt Französisch. Und früher habe ich gelacht, wenn Freunde und Bekannte, von denen sich die meisten als Linke verstanden wissen wollten, ihre spätpubertären Frankreich-Witze machten (»Nach Frankreich nur auf Ketten«, »jeder Stoß ein Franzos«).

Diese Sprüche aufzuschreiben, tut weh. Auf Papier lesen sie sich wie ein Endstufe-Rassismus, den ich so damals nicht wahrgenommen habe. Es war eher der Humor meiner sozialen Klasse, den wir teilten. Permanent unter der Gürtellinie, alles und jeder wurde beleidigt. Es war unsere Art, mit der Klassengewalt der Gesellschaft umzugehen.

Oft, wenn ich dann doch mal auf meine geteilte Identität verwies, wurde ich als Hobbyfranzose bezeichnet. Und doch, da gibt es ein Land in mir drinnen, das es zu ergründen gilt. Spätestens jeden zweiten Sommer, immer dann, wenn ich – früher meine Großmutter, heute nur noch meinen Vater – in Frankreich besuche, geht das Fremdeln los, dessen Gegenbewegung das Wissen um einen Teil unentdeckten Landes in mir selbst ist.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Sobald ich nachspüre, stoße ich auf Exotisierungen aus meinem Freundeskreis, auf die Erinnerung, im Bezirksamt zu sitzen und die Sachbearbeiterin verwehrt mir die Herausgabe meines deutschen Passes mit der Begründung, in ihren Akten stünde, ich sei Franzose (zu einer Zeit, in der innerhalb der EU keine doppelte Staatsbürgerschaft möglich war).

Ich stoße auf der einen Seite auf ein Verantwortungsgefühl meinem verarmten Vater gegenüber und Beklommenheit gegenüber einem Land auf der anderen Seite. Frankreich, das Land, in dem der Präsident Kriegswaffen gegen Kinder einsetzen lässt, in dem Marine Le Pen in Umfragen auf über 55 Prozent kommt, übt eine irrationale Anziehungskraft auf mich aus. Und endlich, mit Mitte 30, gehe ich dem nach.

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Ein Teil meiner Trips ist Urlaub, der andere Teil ist die Beschäftigung mit eigener Identität, mit Familie – und damit auch immer mit Problemen. Denn da, wo ich herkomme (gemeint ist hier kein Land und keine Region, sondern eine Position in der Klassengesellschaft), bedeutet Familie immer auch: Probleme verwalten.

Frankreich, Familie, Ferien? Viel eher wohl Frankreich, Familie, Belastung! Da sind die Abwertungsmechanismen mir selbst gegenüber, die ich in den vergangenen Jahren perfektioniert habe: Warum kannst du mit deinen 35 Jahren noch immer kein Französisch? Dieser Mechanismus hat natürlich etwas mit unserer Gesellschaft zu tun, in der mir bereits in der Schule signalisiert wurde, dass es ein Makel sei, den ich zu verantworten habe, dass ich kaum Französisch spreche, während Kinder aus wohlhabenden Familien ihre Söhne zum Austausch nach Frankreich geschickt haben.

Da ist aber auch, und jetzt reden wir endlich über Klasse, die ständige Selbstbefragung, inwieweit ich in der Pflicht bin oder es möglich machen kann, meinen Vater zu unterstützen. Mein Vater, der Grundsicherung bezieht. Der in einer Sozialwohnung lebt, in der die soziale Isolation mit dem Alter zunimmt. Der gesundheitlich angeschlagen ist.

Und dann ist da die ewige Frage: Folge ich meinem Wunsch, eines Tages fest in dem Land zu wohnen, das mir so fremd und gleichzeitig auf eine entrückte Art doch vertraut ist? Lerne ich die Sprache noch? Bisher konnte ich mich dazu nicht durchringen, aber in mir wächst der Mut – vielleicht auch, weil ich mich frage, wer für meinen Vater da sein wird, wenn er alt ist. Werde ich es sein? Werde ich es sein müssen, weil es sonst niemand macht? Schaffe ich das auch? Oder bleibt es eine Wunschvorstellung?

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