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Das Privileg, arm zu sein

Andreas Koristka meint, dass es viele unbezahlbare und dennoch kostenlose Erlebnisse gibt

Der Urlaub ist die schönste Zeit – bis man das Hotelzimmer auf Reinlichkeit kontrolliert und die Anlage inspiziert. Schnell hat man unterm Bett eine Staubschicht gefunden, am Frühstücksbuffet wird nur zögerlich Rührei nachgefüllt und das Servicepersonal spricht lautes Ausländisch. Doch diese Unannehmlichkeiten sind nichts gegen das, was Teilnehmern von Reisegruppen am K2 zugemutet wurde: Sie mussten auf dem Weg zum zweithöchsten Gipfel der Erde über einen sterbenden Sherpa steigen.

Natürlich ist es schön, dass die Touristen trotz der Verzögerung, die durch die Übersteigung des Mannes verursacht wurde, das Ziel ihrer Wanderung erreichten. Aber wer möchte im Urlaub mit solch einer Tragödie belästigt werden? Da ist es nur ein geringer Trost, wenn man sich noch vor Ort bei der Reiseleitung beschweren kann.

Andreas Koristka

Andreas Koristka ist Redakteur der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel. Für »nd.DieWoche« schreibt er alle zwei Wochen die Kolumne »Betreutes Lesen«. Alle Texte unter: dasnd.de/koristka

Besonders schrecklich ist es, wenn man bedenkt, wie teuer so eine Expedition am K2 ist. Das kann nicht jeder Dahergelaufene buchen. Da könnte man vom Veranstalter eigentlich erwarten, dass schwerverletzte Angestellte diskret beseitigt werden. In der Servicewüste Pakistan ist man von solch einem Arbeitsethos offenbar meilenweit entfernt.

Das ist schade, weil gefährlicher Abenteuerurlaub derzeit unter Reichen sehr angesagt ist. Sie lassen sich in den Weltraum schießen und tauchen in Mini-U-Booten zum Meeresgrund. Klar, ein bisschen Stil müssen die Unternehmungen haben! Wenn man denkt, man könnte Reiche einfach aus dem dritten Stock schubsen und gucken, ob sie die Sache überleben, werden sie wohl kaum eine größere Summe dafür zahlen. Wenn man sie aber in den höchsten Vulkan der Welt stößt, vielleicht schon …

Das Angebot an Risikoreisen wird also in Zukunft wachsen. Andere Anbieter werden auf den Markt drängen, die den Abtransport ihrer toten Angestellten viel effizienter organisieren können. Das sind sie auch ihren Mitarbeitern schuldig. Wer möchte so würdelos sterben, dass er mit seinem Ableben Reiche belästigt? An den tröstenden Gedanken, dass der Tod eines echten Menschen die Reise für die Kunden im Nachgang vielleicht sogar noch interessanter macht, daran denken viele Sherpas beim Sterben bestimmt gar nicht, weil sie über keine besonders hohe Schulbildung verfügen.

Die Branche wird lernen, mit den Widersprüchen des Geschäfts umzugehen. Zu diesen Widersprüchen gehört sicherlich die Frage, warum Menschen viel Geld dafür bezahlen, sich in Todesgefahr zu begeben. Wer dieses Verhalten verstehen will, braucht die Einsicht, dass Reiche eigentlich arm sind. Sie verfügen nicht über unseren breitgefächerten Erfahrungsschatz an Gefühlen. Für Todesgefahr müssen sie viel Geld hinlegen, denn sie können sich nicht einfach aufs Rad setzen und täglich durch den Berufsverkehr zur Arbeit fahren.

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Wir Normalsterblichen haben es in dieser Hinsicht viel besser. Wir können so viel fühlen! Die Angst, vom Chef angeschrien zu werden; die Furcht vor der Eigenbedarfskündigung des Vermieters oder der nächsten Nebenkostenabrechnung; der Ekel, wenn jemand neben einem in der S-Bahn popelt – all das kennen Reiche nicht. Wollen sie solche Gefühle erleben, müssen sie für viel Geld in ferne Länder reisen. Daran sollte man denken, wenn man sich darüber ärgert, dass man sich das Pfingstwochenende an der Müritz nicht leisten kann. Allein das Ärgern ist eigentlich unbezahlbar. Wir genießen so viel gratis. Das wird beim Blick auf den Tod des Sherpas besonders deutlich. Er wurde sogar für etwas bezahlt, das für andere unbezahlbar ist.

Es ist ein Privileg, arm zu sein.

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