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Ukraine: Der Jet-Zeitfaktor
Die von den USA angekündigten F-16-Kampfflugzeuge werden die ukrainische Offensive nicht beflügeln
General Mark A. Milley ist noch knapp einen Monat Chef der Joint Chiefs of Staff und damit der militärische Kopf der US-Streitkräfte. Mit seinen Analysen zum Ukraine-Krieg hat er wesentlich dazu beigetragen, dass Washington den Konflikt im Osten Europas einigermaßen realistisch beurteilen kann. Bereits vor Monaten, so Milley, wies er darauf hin, dass die Anfang Juni begonnene ukrainische Gegenoffensive »lang, blutig und langsam sein wird«. Genau das bestätige sich nun, obwohl die russischen Aggressoren – wie er dieser Tage einschätzte – in einer »ziemlich schlechten Verfassung« sind und »große Verluste« erleiden. Die Moral sei ebenso wie die Logistik »nicht besonders gut«, und auf strategischer Führungsebene gebe es »offensichtlich viele Reibungsverluste«.
General Milley steht mit seiner Lagebeurteilung nicht alleine. Die US-Geheimdienste gehen trotzdem nicht davon aus, dass Kiews Armee die wichtige Stadt Melitopol im Südosten des Landes erreicht und die russische Landbrücke zur Krim durchtrennen kann. Nach gemeinsamen Kriegsspielen US-amerikanischer, britischer und ukrainischer Militärs habe man Kiew empfohlen, die Masse der Streitkräfte auf einen Abschnitt zu konzentrieren. Der ukrainische Generalstab entschied anders, und obwohl immer wieder Reserven in die Kämpfe eingeführt wurden, konnte man die russischen Verteidigungslinien nicht ernsthaft ins Wanken bringen.
US-Amerikaner in Umfragen gegen neue Militärhilfen
»Es ist leicht zu sagen, dass man alles schneller haben möchte, wenn man nicht dabei ist«, beschwerte sich der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba, räumte schwere Verluste ein und betonte: Die Kämpfe würden so lange weitergehen, bis das gesamte Land zurückerobert sei. »Es ist uns egal, wie lange es dauert.«
Das mag aus Kiewer Sicht so sein: In den USA, wo der Kampf im Osten Europas politisch und wirtschaftlich entschieden wird, gibt es indessen wachsenden Unmut. Laut Umfrage des Nachrichtensenders CNN wollen 55 Prozent der Befragten keine neuen Militärhilfen. Unter den Anhängern der Republikaner, die beste Aussichten haben, die Präsidentschaftswahlen im November 2024 zu gewinnen, stimmen sogar 71 Prozent für ein Ende der Ukraine-Hilfe. Nicht nur Donald Trump, der erneut ins Weiße Haus einziehen will, attackiert diese. Auch sein parteiinterner Konkurrent Ron DeSantis ist der Meinung, dass die USA »kein vitales Interesse« an der Ukraine haben. Präsident Joe Biden und seine Demokraten können diese Grundstimmung nicht ignorieren.
Immer wieder beklagte der ukrainische Oberbefehlshaber, General Walerij Saluschnyj, dass Kiews Offensive mangels moderner Luftwaffe viel langsamer voranschreite als erhofft. Ändert sich daran etwas, nachdem Washington nun in der vergangenen Woche die Lieferung von F-16-Kampfjets aus den Niederlanden und Dänemark genehmigte? Auffällig ist: Russlands Protest fiel erstaunlich uninteressiert aus.
Westliche Länder »entsorgen« ihre F-16 in der Ukraine
Natürlich will vor allem die Nato, dass Kiews Luftwaffe ihre sowjetischen Muster loswird und auf F-16 »umsteigt«. Das vereinfacht – wie auch bei anderen Waffensystemen – den Nachschub an Ersatzteilen und modernen Waffen. Auch lassen sich so Links zu anderen Nato-Systemen einrichten. Mehrere Nato-Staaten hatten die gewünschten Jets angeboten, die als Jäger wie als Jagdbomber nutzbar sind. Das waren vor allem jene, die ihre F-16 durch F-35-Machinen ersetzen. Ergo: Was als Solidarität bezeichnet wird, ist zugleich eine kostengünstige Entsorgungslösung.
Die Königlich-Niederländische Luftwaffe will der Ukraine 42 F-16 älterer Bauart »spenden«, Dänemark 19. Allerdings sind viele so abgeflogen, dass sie eine gründliche Kur brauchen. Noch komplizierter gestaltet sich die Ausbildung der Piloten und Techniker durch, wie US-Außenminister Antony Blinken an seine Kollegen in Kopenhagen und Den Haag schrieb, »qualifizierte F-16-Ausbilder«. Die sind kostbar wie Goldstaub. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass sich elf Nato-Staaten (Niederlande, Belgien, Kanada, Dänemark, Luxemburg, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Schweden und das Vereinigte Königreich) auf eine Ausbildungskooperation verständigten. Auch Griechenland bot zu Wochenbeginn an, Ukrainer zu schulen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj behauptete bei seinem Wochenendtrip in die Niederlande und Dänemark, dass die Ausbildung bereits in Dänemark begonnen habe. Über das Wo und Wie gibt es unterschiedliche Aussagen.
Ukraine-Piloten stehen noch ganz am Anfang ihrer Ausbildung
Ausbilder der U.S. Air Force sagen, dass ein Pilot, der rund 500 Stunden mit anderen westlichen Typen geflogen ist, die Viper nach rund 70 Tagen Drill sicher in Luft-Luft- und Luft-Boden-Rollen beherrschen kann. Davon sind die ukrainischen »Azubis« weit entfernt. Es handele sich um junge Piloten, die kaum Flugstunden absolviert und nicht im Krieg gekämpft haben, teilten US-Luftwaffengeneral James Hecker, Chef der US-Luftstreitkräfte in Europa (USAFE), sowie das Allied Air Command der Nato Ende vergangener Woche mit. Zugleich hieß es, dass die angehende ukrainische Elite gerade erst in Großbritannien mit der Sprachausbildung begonnen habe. Danach würden sie »ein bisschen Training an Propellermaschinen« erhalten, um in Frankreich auf Jet-Trainer umzusteigen. Es werde, so US-General Hecker, »mindestens bis zum nächsten Jahr dauern, bis man F-16 in der Ukraine sieht«.
Es sei »jetzt schon klar, dass wir in diesem Herbst oder Winter nicht in der Lage sein werden, die Ukraine mit F-16 zu verteidigen«, weiß der Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, Jurij Ihnat. Seine Aussage deckt sich mit einer Meldung der »Washington Post«, laut der die mutmaßlich sechsmonatige Ausbildung frühestens im Januar 2024 beginnt.
Spielen die USA auf Zeit?
Man fragt sich, ob hinter der US-Verzögerungstaktik eine Idee steckt. Will man so und durch Lieferverzögerungen bei anderen Waffensystemen sowie weitreichender Munition das Patt an der Front festschreiben und eine Eskalation des Krieges verhindern? Solange der ukrainischen Armee kein operativer Durchbruch gelingt und diese das russische Kernland nicht mit Hightech-Waffen attackieren kann, bieten sich möglicherweise nach 18 Monaten verlustreichem Krieg kleine Chancen, um über nichtmilitärische Optionen nachzudenken.
Biden als Friedensstifter? Das käme im Wahlkampf vielleicht ähnlich gut an wie weiland Trumps GI-Heimholung aus Afghanistan. General Mark A. Milley wollte sich dieser Tage vor Journalisten »nicht zu Plänen, laufenden Verhandlungen oder dergleichen äußern. Ich will nur sagen, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, bestimmte Ziele zu erreichen.«
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