Musikfest Berlin: Gebrochene Schönheit

Das Musikfest Berlin hat in seiner ersten Woche Sinfoniekonzerte auf atemberaubenden Niveau gezeigt. Einmal mehr erweist man hier Gustav Mahler die Ehre

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 14 Min.
Das Royal Concertgebouw Orchestra und sein Musikalischer Leiter Iván Fischer beim Musikfest Berlin
Das Royal Concertgebouw Orchestra und sein Musikalischer Leiter Iván Fischer beim Musikfest Berlin

Das diesjährige Musikfest Berlin wurde mit einem Konzert des brillanten Royal Concertgebouw Orchestra unter der Leitung von Iván Fischer glanzvoll eröffnet. Auch 2023 bietet das vom künstlerischen Leiter Winrich Hopp wie gewohnt kompetent und fantasievoll zusammengestellte Programm zahlreiche Werke der Moderne und der zeitgenössischen Musik, dazu einen etwas überraschenden Rachmaninow-Schwerpunkt – und wie in den vergangenen Jahren eine ausführliche Beschäftigung mit den Werken Gustav Mahlers.

Warum Mahler in diesem Kontext immer noch einer der wichtigsten »modernen« Komponisten ist und auch die heutigen Menschen an einer Auseinandersetzung mit seinen vor mehr als 100 Jahren entstandenen Werken nicht vorbeikommen, zeigte aufschlussreich die Aufführung seiner 7. Sinfonie. Diese Sinfonie ist verstörend wie unsere brutale Gegenwart. »Liebesfreud und Liebesleid«, könnte man sagen, »mein bestes Werk und vorwiegend heiteren Charakters«, so bot Mahler die Uraufführung dem Konzertagenten Emil Gutmann für eine geplante Tournee an. Vorwiegend heiteren Charakters, wirklich?

Schon der Kopfsatz ist in seiner angespannten Verrücktheit mit all den nebeneinanderstehenden Themen und Versatzstücken, etwa aus Trauermärschen, Volksliedern oder aggressiver Militärmusik – Mahler kann ohne Weiteres als Erfinder des Samplings gelten –, alles andere als unbeschwert und braucht den Vergleich mit dem großen ersten Satz seiner Sechsten nicht zu scheuen. Ein »Komponieren, das der Totalität mächtig ward, besinnt sich auf deren Gegenteil, den Sinn aus Stücken«, schrieb Adorno dazu, während Georg Solti meinte es hier mit einem »Albtraum« zu tun zu haben.

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Doch schon der Trauermarsch birgt eine andere Weltsicht als je zuvor in Mahlers Werk: Die »Siebte« beginnt mit einem langsamen, pianissimo artikulierten vagen Marschrhythmus; die in tiefen Lagen und vom dumpfen Wirbel der Großen Trommel begleitete Rhythmusfigur und das vom Tenorhorn (großartig: Nico Schippers wie auch Katy Woolley am 1. Horn) intonierte Thema zeigen bereits, was Olaf Wilhelmer in seinem instruktiven Aufsatz im Programmheft als »eigene Zwischenwelt in einem Dämmerzustand« bezeichnet. Natürlich gibt es da ein munteres Wanderlied in geradezu »ostentativ naiver Harmlosigkeit und melodischer Anspruchslosigkeit« (Gerd Indorf), aber diese Naivität ist absichtsvoll gegen das Durcheinander der dämmerigen Suchbewegungen gestellt, ebenso wie in den beiden Nachtmusiken des 2. und 4. Satzes oder im »rührend sprechenden« (Adorno) Trio des 3. Satzes.

Gegenwartsflucht, wie die zeitgenössische Kritik meinte, und »Mahler, der Romantiker«? Möglicherweise gibt ein Aufsatz von Richard Batka über »Das Jüdische bei Gustav Mahler« aus dem Jahr 1910 einen Hinweis: »Mahlers Verhältnis zur deutschen Volksmusik ist ein Verhältnis nicht des ruhigen, natürlichen Besitzes, sondern der heißen Sehnsucht«, schreibt der des Antisemitismus anders als Richard Wagner völlig unverdächtige Batka. Und man mag an Leonard Bernstein denken, der 1966, als er das erste Mal die Wiener Philharmoniker dirigierte, an seine Eltern schrieb: »Ich genieße Wien – so sehr ein Jude das eben kann. Man weiß nie, ob im Bravo schreienden Publikum nicht auch Leute sitzen, die dich vor 25 Jahren erschossen hätten.«

Mahler, ein Jude, der aus Pragmatismus 1897 zum Katholizismus konvertierte, war zeitlebens antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt, die neben seiner im konservativen Wien verschmähten Opernreform und der höfischen Zensur Grund für seine Demission als Chef der Wiener Staatsoper 1907 waren. »Mein Judentum verwehrt mir, wie die Sachen jetzt in der Welt stehen, den Eintritt in jedes Hoftheater. – Nicht Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen. Überall bläst der gleiche Wind«, schrieb Mahler 1895 in einem Brief und mag sich anders, aber ähnlich wie Bernstein 60 Jahre später in Wien gefühlt haben, als Fremder, als nicht zugehörig zur Wiener Gesellschaft. »Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus«.

Mahler hat weder die »Volksmusik« noch die Romantik je als heile Welt wahrgenommen, eher im Gegenteil. Er stand in seiner Zeit als Suchender, teilweise Verlorener da, als jemand, der um die Zugehörigkeit zu seiner Zeit und zur Gesellschaft verzweifelt zu kämpfen hatte. Sein Werk trägt melancholische Züge, ist aber als unbedingt dissident zu bezeichnen. »Mahler stachelt die mit der Welt Einverstandenen zur Wut auf … Darum plädiert Mahlers Symphonik … gegen den Weltlauf« (Adorno). Und die von Batka benannte »heiße Sehnsucht« ist vor allem eine ist voller Sehnsucht nach einer anderen Welt, deren erträumter Zustand weder damals Wirklichkeit war noch heute ist.

Wann immer Mahler Idyllen schafft, sind dies düstere, von Welteindringungen zerschossene Zuflüchte. Wann immer Mahler seine sagenhaften »schönen Stellen« komponiert, sind sie von einer Schönheit, die, wie Rainer Maria Rilke schrieb, »nichts als des Schrecklichen Anfang« ist, »den wir noch grade ertragen«, weil sie »gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.« Alles Schöne ist bei Mahler verhängnisvoll durchbrochen. Selbst die Herdenglocken, die im 2. Satz noch eine weltverlorene Idylle beschwören, erfahren im abschließenden 5. Satz einen brutal dissonanten Einsatz.

Im 3. Satz, einem Scherzo, dem Mahler das Attribut »schattenhaft« hinzufügt und das Wilhelmer als »das pointierteste und dank seiner rabiaten Brüche avancierteste Stück Mahlers« bezeichnet, erleben wir einen nächtlichen Spuk mit verzweifelten Schreien der Violinen, abstürzenden Holzbläsern, blitzschnell abgedämpften Paukenschlägen und einem Klagelied der Holzbläser mit stetigen Triolen, diesem »drehorgelhaft Dudelnden des Weltlaufs mit der expressiven Trauer darüber« (Adorno). In dem ständig virulenten Walzerhaften dieses Satzes mit gehäuft abstürzenden Glissandi der Violinen und Hörner. Hier fragt uns der Boandlkramer, dieser garstige Gesell: Wer will ein Tänzchen mit mir wagen? Doch das wäre ein makabrer Tanz, ein wilder Ritt, ein Hokuspokus, aus dem uns selbst die unvergesslich rührende Oboenmelodie des Trios nicht heraushelfen kann. Keine Entwicklung, keine Rettung, nirgends. Eine letzte Cellomelodie, der Rhythmus des walzerhaften Totentanzes bleibt auch am Schluss erhalten, obwohl es nichts mehr zu begleiten gibt, der zersplitterte D-Dur-Schlussakkord wird von den Pauken (unglaublich: Tomohiro Ando) hingeknallt, bevor die Bratschen den Rest zupfend nachreichen.

Vor allem der 5. Satz sorgte dafür, dass diese Sinfonie nie wirklich erfolgreich war und bis heute eine Art Schattendasein in Mahlers Rezeption führt. Es war zuvörderst Adorno, der 1960 Mahler angesichts dieses Satzes wegen seiner vermeintlichen Heiterkeit, »als wäre Freude schon in der Welt«, und angesichts des »angestrengt fröhlichen Tons« vorwarf, hier ein »Jasager« zu sein, wenn auch »ein schlechter«. Dieses Diktum ist verständlich – angesichts der Barbarei des 20. Jahrhunderts kann man diese Musik nicht mehr so unbefangen hören wie zu Zeiten ihrer Uraufführung vor dem Ersten Weltkrieg. Doch »Fröhlichkeit« und »Freude« in diesem Satz? Bei allem Respekt – da hat sich Adorno gründlich verhört. Denn auch hier ist die Schönheit gebrochen, die pompösen Durakkorde werden dissonant ummantelt und tun in den Ohren weh, alles kann sich jederzeit in eine Katastrophe verwandeln. Wie Büchners Woyzeck bewegt man sich auf schwankendem Boden, »Alles hohl da unten«. So ist Mahler, ohne den die Moderne in der Musik nicht denkbar ist: Er führt uns immer wieder die Zweischneidigkeit des Lebens, die Brüchigkeit der Gesellschaft, das Hohle, das Verwirkte und gleichzeitig doch auch das Schöne auf einmalige Art vor Augen.

Das Concertgebouw Orchestra beweist in dieser glückhaften Aufführung aufs Neue, dass es wohl das beste Mahler-Orchester überhaupt ist; übrigens mit auffällig vielen Frauen im Ensemble, nicht nur an den Harfen, sondern auch an vielen Schlüsselpositionen: an der Solovioline und als Konzertmeisterin (wunderbar, als Gast: Sarah Christian von der Kammerphilharmonie Bremen), als Stimmführerinnen von Bratschen und Celli oder Flöten. Hat man in der Berliner Philharmonie je so blitzend omnipräsente und schillernde Blechbläser gehört? Die Überraschung ist, dass sich Fischer als ein idealer Mahler-Dirigent herausstellt: Jede Geste, jede Wendung, jeder nebeneinanderstehende Block von unterschiedlichster Musik wird von Fischer sorgfältig herausgearbeitet. Nie verliert er in diesem Meer von Tönen die Übersicht, immer fordert er die Musiker*innen heraus und tanzt förmlich mit ihnen, wenn es die Partitur erlaubt.

Eine herausragende Interpretation des in Berlin dank seiner von 2012 bis 2018 währenden Zeit als Chefdirigent des Konzerthausorchesters bestens bekannten Dirigenten. Man hätte es wissen können, hätte man schon vorher seine 2019 entstandene vorzügliche Aufnahme dieser Sinfonie mit dem Budapest Festival Orchestra gehört. Standing Ovations, natürlich.

Vor der Pause eine Auswahl aus Jörg Widmanns Liederzyklus »Das heiße Herz«, die doch eher lauwarm wirkt, erst recht im Vergleich zu der Mahler-Sinfonie. Widmann hat ja ohnehin gerne die Tendenz zur Gefälligkeit, und das merkt man auch diesen Stücken an. Alles ist kompetent komponiert und hervorragend instrumentiert, aber man fragt sich: Wozu? Und warum so lang? Da konnte sich der Bariton Michael Nagy noch so sehr ins Zeug werfen, die Komposition blieb ohne Wirkung und blass, erst recht im Vergleich zu Mahler.

Das Niveau der Sinfoniekonzerte der ersten Woche des Musikfests ist durchweg atemberaubend. Über jedes dieser Konzerte ließe sich ein langer Aufsatz schreiben. Etwa, wie Simon Rattle mit dem fantastischen London Symphony Orchestra Mahlers »Neunte« und dort vor allem den ersten und den letzten Satz zelebriert, dieses bewegende Werk des Abschieds: »Was mir der Tod erzählt« lautet für Mahlers Zeitgenossen Paul Bekker die ungeschriebene Überschrift dieser Sinfonie. Deren erster Satz ist ein Zeugnis der Weltbrüche: keine Impulse, keine Struktur, keine Bewegung, ein »einzigartiges Schweben zwischen Abschiedswehmut und Ahnung des himmlischen Lichts«, wie Mahlers Freund und Dirigent der postumen Uraufführung, Bruno Walter, diese Musik empfand. Oder Alban Berg: »Der erste Satz ist das Allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat.«

Dann die beiden radikalen Mittelsätze, für den Komponisten Dieter Schnebel »komponierte Ruinen«. Dämonische, makabre Musik, da haben wir wieder den Totentanz, den wir bereits aus der »Siebten« kennen, nur diesmal als Ländler, Walzer und Menuett durchdekliniert. Ein »Lebenstornado«, der »den Lauf dieser Welt in seiner ungeheuren, leeren Betriebsamkeit so scharf porträtiert wie kein Mahler-Satz zuvor« (Jens Malte Fischer). Rattle besticht durch die dramatische Gestaltung dieser höllischen und brutalen Musik mit ihren sich kreuzenden und schneidenden Stimmen, die die Barbarei des 20. Jahrhunderts vorwegzunehmen scheint. Und dann dieses ewige Abschiednehmen des Schlusssatzes, das erschütternde »Adagissimo« mit seiner auskomponierten endlosen Verlangsamung, die Musik erstirbt geradezu im Nichts. Die lang anhaltende Stille war das größte Kompliment, das das Publikum Rattle und seinen Mitstreiter*innen vom LSO machen konnte.

Die Interpretation von Mahlers »Lied von der Erde« durch Robin Ticciati und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin (DSO) dagegen fällt zwiespältig aus. In den ersten fünf Sätzen erleben wir eine engagierte, aber wenig überraschende Version dieser »8 ½ten« Sinfonie Mahlers, Teil einer Abschieds-Trilogie, könnte man sagen. Der auskomponierte Stillstand im letzten Lied, »Der Abschied«, zerfaserte leider völlig und verlor seine Spannung. Hervorragend jedoch der kurzfristig eingesprungene Tenor David Butt Philip mit einer klaren textlichen Artikulation und einem enormen Volumen, das sich gegen das von Mahler vorgeschriebene Orchesterforte im »Trinklied vom Jammer der Erde« vorzüglich zu behaupten weiß, wie man es im Konzert selten zu hören bekommt. Das Gegenteil ist leider von der Sopranistin Karen Cargill zu berichten, die ihre drei Mahler-Lieder als eine Art Oper darstellte. Ihr ständig bebendes Vibrato in allen höheren Lagen war völlig deplatziert – die Krise der Gesangskunst konnte so miterlebt werden.

Dass dieses Konzert des DSO dennoch zum Ereignis geriet, ist der Aufführung des »Su« betitelten »Konzerts für Sheng und Orchester« (2008/09) der Komponistin Unsuk Chin zu verdanken. Die Sheng ist eine chinesische Mundorgel, deren Ursprünge mehr als 3000 Jahre zurückreichen. Das Instrument verfügt dank seiner bis zu 37 Pfeifen aus Bambusrohr über einen immensen Klangreichtum: Es kann wie eine Duduk klingen, aber auch wie mehrere Mundharmonikas; wenn sie mehrstimmig gespielt wird, wird die Sheng zu einem Instrument mit feinen, in Mikrotöne reichenden Abstufungen, faszinierenden Klängen und reichem Ausdrucksspektrum. Wahrscheinlich beherrscht weltweit kein anderer dieses Instrument so virtuos wie der 1970 in Gaoyou (China) geborene und seit 1995 in Berlin lebende Wu Wei.

Zuletzt konnte man den Musiker im Frühjahr im Pierre Boulez Saal als Teil eines Kollektivs, das die amerikanische Jazzlegende William Parker zusammengestellt hatte, erleben. Dies zeigt die immense Vielseitigkeit des Musikers. In der faszinierenden Komposition Unsuk Chins tanzt und wirbelt Wu Wei durch das Werk, stellt sich den Attacken des Schlagwerks mit rasenden, rhythmischen Akkorden, wodurch, wie Habakuk Traber im Programmheft anmerkt, die Musik »einen modernen, explosiven Drive erhält«. Aber Wu Wei entwickelt auch die leisen Passagen gekonnt, etwa zu Beginn, wenn die Sheng solo und in dreifachem Pianissimo ein A spielt, dem sich im nächsten Takt ein darüberstehendes C zugesellt, um wenig später mit einem Cis und einem B kontrastiert zu werden, und alles in engsten Akkorden weiterentwickelt wird, bis kaum hörbar die Streicher einsetzen und der Sheng einen Resonanzraum »shengken«, bis sich alles über einen längeren Zeitraum zu einem Klangmonster entwickelt, in dem die Sheng ständig aktiv bleibt. Wu Wei spielt seine Musik sehr körperlich, fast wild.; die Sheng ist ihrem Wesen nach eben etwas, das »aus der Erde wuchs«. Wu Wei, der Mann, der mit der Sheng tanzt – um dann aber auch sofort wieder mit seinem Atem (»Su« bedeutet im Altägyptischen Luft, Atem, aber im übertragenen Sinn auch Seele oder Geist) expressive Klänge hervorzubringen, die dem konfuzianischen Credo von der Harmonie, der Balance zwischen Mensch und Natur gerecht werden. Eine tolle Komposition und ein genialer Solist, der mit langem Beifall belohnt wird und noch eine Zugabe spielen muss, bei der er solo die ganze Klangpalette der Sheng präsentiert, ohne, wie Unsuk Chin klarstellt, »künstlerische Erscheinungen nach angeblichen Kulturkreisen zu kategorisieren«.

Dem DSO ist zu gratulieren, dass sie in dieser Saison »kein Konzert ohne Komponistin« spielen werden (während die neue Chefdirigentin des Konzerthausorchesters, Joana Mallwitz, in der ganzen Saison kein einziges Werk einer Komponistin im Programm hat). Und das bestechende Werk der großen Unsuk Chin beweist aufs Schönste, welche Entdeckungen dieser Programmpolitik zu verdanken sind.

Doch das Musikfest besteht nicht nur aus großen Sinfoniekonzerten. Einen interessanten Kammermusikabend mit Werken von Rachmaninow gestaltete der vorzügliche Pianist Alexander Melnikov, der illustre Gäste in den Kammermusiksaal eingeladen hatte. Mit Alexander Rudin spielte er die Sonate für Violoncello und Klavier g-Moll op. 19 aus dem Jahr 1901. Der große Seufzer, mit dem die Einleitung beginnt, prägt das gesamte Stück. Herrliche Cellokantilenen und ein immer wieder forciert virtuos auftretendes Klavier prägen diese Komposition, gegen Ende des ersten Satzes ergänzt um eine glockenhaft-helle Melodie eines nicht ausgeschalteten Mobiltelefons, die sich überraschend als eine einigermaßen passende Hinzufügung entpuppt (nichtsdestotrotz: Wann gibt es endlich Hausverbote für Menschen, die ihre dämlichen Mobiltelefone im Konzertsaal nicht im Griff haben?).

Herrlich die abwärts sinkende, trockene Stolperfigur, die sich Cello und Klavier gegenseitig zuspielen wie im Scherz, bis dann wieder ausholende warme Melodien vom Cello kommen. Aber das Klavier beliebt weiter zu scherzen, leicht wirft es sein »Dada-dada-dadam« hin. Und so geht das in einem fort zum Vergnügen der Zuhörer*innen, die schon nach dem ersten Satz klatschen. Es sind erfreulich viele junge Leute im praktisch ausverkauften Saal und offensichtlich auch etliche sich der bourgeoisen Konzertriten nicht bewusste Menschen: Willkommen! Schön, dass ihr da seid! Und klatscht ruhig auch zwischen den Sätzen, wenn euch die Musik gefallen hat.

Die mit ihren Mozart-Klavierkonzert-Aufnahmen jüngst zurecht gefeierte Pianistin Olga Pashchenko spielt mit Melnikov die »Symphonischen Tänze op. 45«. Hier, im Jahr 1940 und mit seiner letzten Komposition, erleben wir einen ganz anderen Rachmaninow: nicht mehr den Spätromantiker mit seinen ausladenden Melodien, sondern eine extrem rhythmische, zum Teil am Jazz angelehnte, aber natürlich immer noch höchst virtuose Musik voller Synkopen und Brüche. Rachmaninow hat den Blues, Gershwins »Rhapsody in Blue« lässt grüßen, Bernsteins »West Side Story« ist nicht mehr allzu fern, und zwischen diesen Polen und gleichzeitig in vollem Bewusstsein seiner russischen Wurzeln hat Rachmaninow in einem Landhaus auf Long Island dieses Stück komponiert. Im Mittelsatz ein schattenhafter, etwas unheimlicher Walzer, wir hören auch die mittelalterliche Sequenz des »Dies Irae«, die den Komponisten zeitlebens beschäftigt hat, und im letzten Satz wird mit einem mitreißenden Thema und allerlei Taktwechseln noch einmal ganz rachmaninowhaft gezaubert, ehe schließlich der vielstimmige Chorgesang des »Alleluja« aus seinem Chorzyklus »Ganznächtliche Vigil« anklingt.

Unter all diesen großartigen und faszinierend interpretierten Werken stechen an diesem langen Abend die »Sechs Romanzen op. 38« aus dem Jahr 1916 heraus, die von der Sopranistin Nadezhda Pavlova in einer unvorstellbaren Intensität dargeboten werden. Pavlova gestaltet diese Lieder und deren »inneres Drama, das um das Thema der Liebessehnsucht und Erwartung kreist« (Martin Wilkening), nicht nur mit Inbrunst, sie lebt sie förmlich. Hier kommen plötzlich ganz andere Klänge zur Geltung, Rachmaninow scheint sein Innerstes nach außen zu kehren. Vorsichtig tastende Akkorde, alles ganz im Interesse des Soprans, der hell glänzt und schillern und toben und beben kann und dunkle Energie verströmen. Der »Rattenfänger« löckt mit seiner Duduk, in den »Margeriten« kommentiert die Sängerin die hoch gesetzte einstimmige Melodie im Klavier, ein geflügelter Traum bezirzt uns; und schließlich das rätselhafte und dramatische »A-u! (A… U…!)«, die Liebende auf der Suche nach dem Geliebten.

»Doch wo bist du? Der Fels nur tönt wie sanfte Glocken«, und die Untergehende singt schließlich nur noch, unterstützt von gewaltigen Fortissimo-Akkord-Kaskaden des Klaviers, »A – u!«, und schließlich als dramatisch exaltierter Höhepunkt: »Mein Schrei«; die letzten Worte hat das Klavier mit einer gefangennehmenden Melodie, die mit drei gewagten, von Bass zu den Oberstimmen verschobenen Akkorden verstirbt.

Als Zugabe singt Nadezhda Pavlova schließlich die berühmte »Vocalise«, und sie kämpft zum Ende gegen die Tränen in ihren Augen, die wir gefangen genommenen und bebenden Zuhörer*innen längst vergossen haben: Ergreifende Schönheit! Ein Traum.

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