Polizeigewalt in Berlin: »Schmerzgriffe sind Teil der Ausbildung«

Im rabiaten Vorgehen der Berliner Polizei gegen Blockaden erkennt Polizeiexperte Philipp Krüger System

  • Interview: Nora Noll
  • Lesedauer: 4 Min.

Gestern hat die Letzte Generation ihren Protestherbst begonnen, ab kommenden Montag wollen die Klimaaktivist*innen vier Tage lang wieder Berlins Straßen blockieren. Müssen wir bei den Polizeieinsätzen mit unverhältnismäßiger Gewalt rechnen?

Prognosen für die Zukunft sind schwierig. Aber in der Vergangenheit hat die Anwendung von Schmerzgriffen gegenüber den Aktivist*innen der Letzten Generation regelmäßig stattgefunden. Deshalb kann man davon ausgehen, dass das wieder passieren wird.

Agiert die Berliner Polizei denn rabiater als die Polizei in anderen Bundesländern?

Das lässt sich nicht so pauschal sagen, weil es in den unterschiedlichen Polizeien, bei den Landespolizeien wie auch bei der Bundespolizei, unterschiedliche Polizeikulturen gibt. Es gibt welche, die progressiver sind, die sich im Zweifel eher zurückhalten, während andere aggressiver beispielsweise gegen Demonstrationen vorgehen. Deshalb kann man da kein generelles Urteil fällen. Aber es fällt auf, dass vor allem in Bayern, Berlin und Hamburg Schmerzgriffe angewandt wurden.

Vor Kurzem hat das Rechercheportal »Frag den Staat« Auszüge aus alten Lehrbüchern der Berliner Polizei veröffentlicht, die bis 2020 genutzt wurden und die Anwendung von Schmerzgriffen zeigen. Hat Sie das überrascht?

Interview
AMNESTY_Philipp_KRÜGER_©privat

Philipp Krüger ist Sprecher der Themenkoordinationsgruppe Polizei und Menschenrechte von Amnesty International Deutschland.

Nein, das war keine Überraschung. Wir kannten die Lehrbücher zwar nicht, aber dass Schmerzgriffe Teil der Ausbildung sind, wissen wir schon lange.

Die Polizeipräsidentin leugnete das aber. Eine Lüge?

Die Polizeipräsidentin sagt, es handele sich um Maßnahmen des unmittelbaren Zwanges. Es gibt aber die Rechtsauffassung, dass hier gar kein unmittelbarer Zwang ausgeübt wird, wenn durch das Zufügen von Schmerzen etwas eben mittelbar erzwungen werden soll – zum Beispiel das Ende einer Blockade. Aber gerade bei Blockaden ist der Einsatz von Schmerzgriffen regelmäßig schon aus Gründen der Verhältnismäßigkeit rechtswidrig. Denn wenn die Blockierer*innen sich gewaltfrei verhalten, ist das Zufügen von Schmerzen nicht erforderlich.

Wenn ich in einer Blockade sitze und ein Polizist verdreht mir den Arm und drückt mir auf den Kiefer, anstatt mich wegzutragen – wie kann ich mich nachträglich dagegen wehren?

Es ist möglich, dagegen zu klagen und die Rechtswidrigkeit solcher Maßnahmen feststellen zu lassen. Es ist auch möglich, dass man damit Erfolg hat. Aber die eigentliche Problematik liegt darin, dass auch eine erfolgreiche Klage keine unmittelbaren Konsequenzen für die Polizei hat. Das sehen wir auch bei anderen Beispielen, etwa bei Racial Profiling oder generell bei der Einkesselung von Demonstrationen. Hier wird häufig nachträglich die grundsätzliche Unrechtmäßigkeit festgestellt oder eine unrechtmäßige Ausübung, vielleicht gibt es eine kleine Geldentschädigung, ein kleinerer dreistelliger Betrag. Aber das hält die Polizei nicht davon ab, die Maßnahmen wieder in ähnlicher Form anzuwenden.

Es bräuchte also Sanktionen gegen Polizist*innen, die das Maß an zulässiger Gewalt überschreiten oder unrechtmäßig handeln?

Natürlich hilft es, wenn polizeiliches Verhalten stärker kontrolliert wird und auf Fehlverhalten auch Konsequenzen folgen. Wir als Amnesty International Deutschland fordern daher unabhängige Ermittlungseinrichtungen und eine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamt*innen. Das könnte dazu beitragen, dass sich Polizist*innen einem Ermittlungsdruck ausgesetzt fühlen und Fehlverhalten unterlassen. Aber wir müssen auch sehen, woher die Repression kommt. Wenn sie auf gesetzgeberischen Entscheidungen beruht, etwa einem strengeren Versammlungsgesetz, dann ist das auch eine Botschaft an die Polizei.

Schwarz-Rot will das Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz reformieren und zum Beispiel die Kategorie der »öffentlichen Ordnung« wieder einführen. Eine gefährliche Entwicklung?

Es ist generell so, dass wir weltweit zunehmende Repression gegen politisch unliebsame Bewegungen feststellen, was die demokratische Kultur sehr stark einschränkt. Das ist eine Entwicklung, die auch vor Deutschland nicht Halt macht. Auch hier wird mit immer stärkerer Repression gegen politischen Protest vorgegangen. Wir erleben eine Welle der Verschärfung des Versammlungs- oder auch des Polizeirechts, was sich zum Beispiel in der Ausweitung des Polizeigewahrsams äußert. Das führt dazu, dass Aktivist*innen der Letzten Generation immer häufiger in Gewahrsam genommen werden. Das hat es früher so nicht gegeben und wäre auch nur schwer vorstellbar gewesen.

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