Wie geht es weiter im Westen?

In seinem neuen Buch »Zeiten Ende« fordert Harald Welzer ökonomischen und militärischen Verzicht

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Time over, alle aussteigen: Alle reden von Verbrennerautos, aber kaum jemand von den Privatfliegern, meint Welzer
Time over, alle aussteigen: Alle reden von Verbrennerautos, aber kaum jemand von den Privatfliegern, meint Welzer

Alarmieren und zugleich inspirieren – auf die persönliche Art, das ist Harald Welzers Markenzeichen. Der Soziologe weiß, wie Öffentlichkeit hergestellt wird: »Zeiten Ende« heißt sein neues Buch. Sofort denkt man an die »Zeitenwende«, womit der Bundeskanzler für die deutsche Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen das angreifende Russland warb: »Wir investieren in die Sicherheit unseres Landes.«

Welzer aber spricht offen vom Ende »einer westlich geprägten Epoche«. Und er sieht die Gefahren: »Kollabierende Systeme sind wie der Koyote im Zeichentrickfilm, der über den Abgrund hinausrennt und erst viel später merkt, dass er keinen Boden mehr unter den Füßen hat.« Wenn aber »ein in ökonomischer Hinsicht extrem erfolgreiches Modell an sein Ende gekommen ist«, was wären die Schlussfolgerungen? Dass die Bundespolitik im »Jetzt« feststeckt und das dies ein Problem ist, wenn die unipolare Weltordung erodiert.

Nicht erst seit heute kritisiert der Politologe deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine aus einer alternativ-pazifistischen Tradition heraus. Er gehörte im Frühjahr 2022 zu den Unterzeichnern eines offenen Briefs an den Bundeskanzler, in dem gefordert wurde, keine Waffen an die Ukraine zu liefern, weil dies die Gefahr eines Weltkriegs erhöhe, was den linksliberal prominenten Briefschreibern viel Medienschelte eintrug. Daraufhin veröffentlichte Welzer zusammen mit dem Philosophen und Fernsehmoderatoren Richard David Precht das Buch »Die vierte Gewalt«, in dem sie eine »geschlossene Meinung« von »Bild« bis »Taz« konstatierten und »die soziale Konformität der Realitätswahrnehmung in den Leitmedien und das damit einhergehende ›Gruppendenken‹« kritisierten. Allerdings widmeten viele »Leitmedien« ihren beiden Kritikern große Texte und Interviews, die ihr Buch zum Bestseller machten.

Welzer kritisiert auch in seinem neuen Buch den »Moralismus« der Grünen, »der den Pazifismus diskreditieren zu müssen meint, weil jetzt gerade Zeitenwende ist«. Das führe dazu, »dass vor lauter Betonung von Solidarität und fast bedingungsloser Unterstützung des angegriffenen Staates, der – man muss heute schon daran erinnern – kein Bündnispartner ist, Definitionen von Kriegszielen, vor allem aber die Haltung anderer Staaten zu diesem Krieg in der medialen Öffentlichkeit kaum diskutiert werden«. Welzer wundert sich, dass grüne Politiker gleichermaßen von Kriegs- wie Klimazielen sprechen können, was er »die Doppelmoral des Westens« nennt: »Ein Leopard-II-Kampfpanzer, wie er insbesondere von den Grünen für den Kriegseinsatz in der Ukraine gefordert wurde, verbraucht etwa 500 Liter Diesel auf 100 Kilometer, und Kampfflugzeuge wie ein B2-Bomber emittieren alle 45 Kilometer eine Tonne CO2

Allgemein gesehen ist für Welzer eine Veränderung des Lebensstils unausweichlich. »Nachhaltig zu wirtschaften und auch zu leben«, sieht er als Gebot der Zeit. Es ist ihm klar, dass diese Aufforderung, vielfach als »Zumutung« empfunden wird. Wirtschaftswachstum ohne gewissenlose Ausbeutung der Natur hat es bislang nicht gegeben. Es gibt die deutsche Autoindustrie als wichtigen Teil der Volkswirtschaft, das ist bekannt. Aber nicht alle Menschen fahren in Verbrennerautos herum, manche nehmen auch den Privatflieger. Laut Greenpeace gab es im vergangenen Jahr in Deutschland 58 424 Flüge mit Privatflugzeugen, die 208 645 Tonnen Kohlendioxid freisetzten, die meisten auf der Strecke Berlin-Köln, für die man im ICE viereinhalb Stunden braucht.

»Zeiten Ende« beginnt mit einer Erinnerung an den Fußballer Uwe Seeler, der Anfang der 60er Jahre ein hoch dotiertes Angebot von Inter Mailand ablehnte, weil er dort ja »nicht öfter als dreimal am Tag ein Steak essen« könnte und in Hamburg bleiben wollte. Er kam aus einer Arbeiterfamilie und laut Welzer war er wohl »die letzte öffentliche Person in Deutschland ..., die ›nur‹ einen Hauptschulabschluss hatte«. Ob eine andere Zusammensetzung des Bundestags – 87 Prozent der Abgeordneten haben eine Hochschulausbildung, 16 Prozent einen Doktortitel – zu einer besseren Politik führen würde?

Die Forderung, dass die Köchin den Staat regieren sollte, gab es hierzulande schon, und ein Dachdecker stand tatsächlich mal ganz oben. Es hat nicht funktioniert. Die Bedürfnisse nach Wohlstand und Freiheit wie im Westen kollidierten in der DDR mit den realen Möglichkeiten. Dass Welzer sehr wenig vom Osten weiß, unterscheidet ihn nicht von der Mehrheit der Bundesdeutschen. Aber es käme ihm zugute, wenn er sich kundiger machen würde, denn nicht wenige seiner Vorschläge, die er am Schluss des Buches äußert, wurden unter anderen Bedingungen schon ausprobiert. Für die Zukunft wäre es gut zu wissen, woran sie scheiterten.

Als Autor weiß er auf jeden Fall mitreißend zu erzählen. Detailliert beschäftigt er sich mit politischen Entscheidungen, der Medienöffentlichkeit und dem schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Allem voran das Umweltproblem. »Die Natur wurde systemunabhängig als ein grenzenloses Lager voller Rohstoffe für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse definiert und als solches behandelt.«

Es stimmt wohl, dass dabei die Verantwortung jedes einzelnen gefordert ist. Aber, wie Heinrich Heine schon 1844 in »Deutschland, ein Wintermärchen« schrieb: »Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,/ Ich kenn’ auch die Herren Verfasser;/ Ich weiß, sie tranken heimlich Wein/ Und predigten öffentlich Wasser.« Naturschutz hat seinen Preis ebenso wie soziale Gerechtigkeit. Darüber muss nachgedacht und verhandelt werden.

Harald Welzer: Zeiten Ende. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr. S. Fischer, 302 S., geb., 24 €.

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