Ver.di: Mehr Konflikt wagen

Verdi-Mitglieder wenden sich gegen Schlichtungsvereinbarungen in Tarifverhandlungen

  • Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 4 Min.
Hätten ohne Schlichtungsvereinbarung eventuell bessere Arbeitsbedingungen: streikendes Krankenhauspersonal in Mainz.
Hätten ohne Schlichtungsvereinbarung eventuell bessere Arbeitsbedingungen: streikendes Krankenhauspersonal in Mainz.

Anja Voigt ist sauer und hat für die Entscheidung der Antragskommission kein Verständnis. Die Intensivpflegerin am Vivantes Klinikum in Neukölln hatte gemeinsam mit anderen Kolleg*innen beim Verdi-Bundeskongress eine Diskussion über Schlichtungsvereinbarungen gefordert. Aus Sicht der kämpferischen Gewerkschafterin, die seit Jahren in der Krankenhausbewegung aktiv ist, bremsen solche Vereinbarungen starke Tarifbewegungen aus. Voigts Antrag wurde aber am Mittwoch aus formalen Gründen abgelehnt. Dafür sei die Bundestarifkommission zuständig, hieß es in der Begründung.

Schlichtungsvereinbarungen, wie die seit 2011 für den öffentlichen Dienst bestehende zwischen dem Bund, dem Verband kommunaler Arbeitgeber und der Gewerkschaft Verdi sind Verträge zwischen den Tarifparteien. Darin verpflichten sie sich, stockende Verhandlungen durch sogenannte Schlichtungskommissionen fortzuführen. Die Mitglieder der Kommissionen werden benannt und sind meist Dritte, die an dem Tarifkonflikt nicht unmittelbar beteiligt sind. Die von ihnen ausgehandelten Empfehlungen bilden oft die Grundlage für den folgenden Tarifabschluss.

»Sobald eine der Parteien eine Schlichtung fordert, ist die andere verpflichtet, darauf einzugehen«, erklärte Voigt im Gespräch mit »nd«. »Und während die Schlichtungsverhandlungen laufen, herrscht Friedenspflicht. Streiks sind also verboten«, erläuterte sie. Zudem agiere die Schlichtungskommission unter Geheimhaltung. Auf die Ergebnisse der Vereinbarung hätten die Beschäftigten dann oftmals keinen Einfluss. »Das ist undemokratisch und so werden Arbeitskämpfe abgewürgt«, kritisierte die Intensivpflegerin.

Vor allem Gewerkschaftsbezirke und Branchen, die gut organisiert sind, viele Mitglieder haben und streikbereit sind, positionieren sich gegen die Schlichtungen. Doch sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene gibt es Gremien, die an der Schlichtungsvereinbarung festhalten wollen. »Weil sie sich zu wenig zutrauen und vielleicht, um die sozialpartnerschaftliche Beziehung zu erhalten«, vermutet Anja Voigt.

Das hat auch mit der geltenden Rechtsprechung zum Arbeits- und Streikrecht in Deutschland zu tun. Zwar gibt es keine gesetzliche Pflicht zur Schlichtung wie in Italien oder Bulgarien. Aber durch die Friedenspflicht und dadurch, dass Streiks in Deutschland rechtlich als letztes Mittel in Tarifauseinandersetzungen gelten, entsteht ein starker Druck auf die Gewerkschaften, sich auf Schlichtungen einzulassen. Das geht aus einem Diskussionspapier der Gewerkschaft zu Schlichtungsvereinbarungen hervor.

Vor allem in Betrieben und Branchen mit einem geringen Organisierungsgrad können Schlichtungsvereinbarungen helfen, mehr gewerkschaftlichen Einfluss auf die Tarifverhandlungen auszuüben, als die eigene Stärke vor Ort hergibt. Denn auch die Unternehmensvertreter*innen sind dazu verpflichtet, sich auf die Schlichtung einzulassen. Die Vereinbarungen tragen dann mit dazu bei, die Tarifverhandlungen in für die Gewerkschaft vorhersehbare Bahnen zu lenken.

Das ist wohl auch der Grund, warum die Gewerkschaft die aktuelle Schlichtungsvereinbarung vorerst beibehalten will. Auf nd-Anfrage teilte der Bereichsleiter Tarifpolitik im öffentlichen Dienst, Oliver Bandosz, mit, »dass an der Schlichtungsvereinbarung festgehalten wird, was auch der Beschlusslage der Bundestarifkommission für den öffentlichen Dienst entspricht«. Fragen nach strategischen Gründen, weshalb die Gewerkschaft an der Vereinbarung festhält, blieben bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Anja Voigt hält das für den falschen Weg. Aus ihrer Sicht müsse man sich mehr zutrauen. »Mit Selbstbewusstsein und Vertrauen in die eigene Stärke lässt sich für die Beschäftigten mehr herausholen«, denkt sie. Das könne auch eine Signalwirkung für Betriebe und Branchen mit schwachen Gewerkschaftsstrukturen haben. Voigt hatte gehofft, dass mit den von Streiks begleiteten Verhandlungsrunden in Berlin und Nordrhein-Westfalen Anfang dieses Jahres Bewegung in die Sache kommen würde. »Dass sich das Gefühl breitmacht, wir schaffen das, wir sind stark«, erzählt sie.

Doch aufgrund der Empfehlung der Antragskommission wurde nicht einmal eine Diskussion über die Schlichtungsvereinbarung zugelassen. »Das ist völlig irre«, findet Anja Voigt. Es stehe im Widerspruch zu allem, was auf dem Kongress gesagt wurde. »Es gab Reden zu Empowerment, dazu, dass Mitglieder an der Basis gestärkt werden und es mehr demokratische Mitbestimmung geben soll. Dann hältst du an einem Konzept fest, das genau das verhindert und lässt nicht mal eine Debatte darüber zu«, kritisierte sie.

Anja Voigt ist seit Anfang dieses Jahres auch in der Tarifkommission aktiv. Sie und ihre Kolleg*innen wollen das Thema weiter auf die Agenda setzen und erhielten dafür Unterstützung auf dem Kongress. Auch die stellvertretende Bundesvorsitzende, Christine Behle, befürwortete, die Debatte über Schlichtungen zu führen. Wie die ausgeht, ist ungewiss. Bereits in der Vergangenheit gab es Versuche, die Vereinbarung zu kippen.

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