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Verdi-Vize Christine Behle will »das Thema Arbeitszeit angehen«

Verdi-Vize Christine Behle über nötige Entlastung im öffentlichen Dienst, 14 Euro Mindestlohn und was sie an Olaf Scholz geärgert hat

  • Interview: Ines Wallrodt
  • Lesedauer: 10 Min.
Wie bezieht man zweieinhalb Millionen Beschäftigte in einer Tarifrunde tatsächlich ein? »Wir haben jetzt ein gutes Konzept für aktive Mitgestaltung gefunden«, sagt Verdi-Vize Christine Behle.
Wie bezieht man zweieinhalb Millionen Beschäftigte in einer Tarifrunde tatsächlich ein? »Wir haben jetzt ein gutes Konzept für aktive Mitgestaltung gefunden«, sagt Verdi-Vize Christine Behle.

Verdi kann in diesem Jahr erstmals seit Langem eine positive Mitgliederbilanz vorweisen. Wie haben Sie das geschafft?

Durch Pandemie und Inflation haben Gewerkschaften einen neuen Stellenwert bekommen. In diesen harten Zeiten wurde geschaut: Wer gibt glaubwürdige Antworten? Wer setzt sich wirklich ein? Seither gibt es eine richtige Renaissance von Gewerkschaften, insbesondere im Dienstleistungssektor, der besonders betroffen war in der Pandemie. Der andere Faktor ist die Neuaufstellung unserer Tarifarbeit: Wir ringen seit einigen Jahren darum, wie wir gerade große Flächentarifauseinandersetzungen stärker mit den Mitgliedern gemeinsam bestreiten. Das ist wirklich nicht einfach – für zweieinhalb Millionen Beschäftigte einen Tarifvertrag abzuschließen und das nicht als anonymes Thema zu bearbeiten, sondern die Beschäftigten wirklich einzubeziehen. Wir haben jetzt aber ein gutes Konzept für aktive Mitgestaltung gefunden. Das geht über Mitarbeit oder Beteiligung hinaus. Das findet große Anerkennung und motiviert Beschäftigte, Mitglied bei uns zu werden.

Mitgestaltung statt Mitarbeit – was ist der Unterschied?

Der Unterschied ist, dass unsere Kolleginnen und Kollegen richtig involviert sind in eine Tarifrunde. Wir informieren sie unmittelbar in der Verhandlungssituation schnell und transparent über das, was besprochen ist, sodass klar ist, das ist nichts Anonymes. Was haben die Arbeitgeber gesagt? Warum haben sie es gesagt? Wie gucken wir darauf? Und es gibt die Möglichkeit zur Diskussion. Die ist bei Tausenden von Leuten in einer Videokonferenz zugegebenermaßen eingeschränkt. Aber es gibt die Möglichkeit, Fragen zu stellen, Anregungen zu geben, Kritik zu äußern. Wir gehen darauf ein und nehmen das auf. Das ist der entscheidende Unterschied.

Interview

Christine Behle ist seit 2019 stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi. In dieser Woche wurde die 55-Jährige beim Bundeskongress der Gewerkschaft in Berlin mit 93,5 Prozent wiedergewählt. Behle leitet den Fachbereich Öffentliche und private Dienstleistungen, Sozialversicherung und Verkehr und ist zuständig für die Tarifpolitik im öffentlichen Dienst. Sie ist Mitglied der SPD.

Haben Sie keine Angst, dass Ihnen die Mitglieder »dazwischenfunken«?

Ich empfinde das nicht als Gefahr, ich empfinde das als Bereicherung. Uns ist es wichtig, solche Rückmeldungen zu erhalten. Wenn ich nur in einem eingeschränkten Raum verhandele, ist es ein bisschen wie ein Blindflug: Habe ich wirklich das richtige Gespür? Bin ich auf dem richtigen Weg? Durch Formate, an denen sich Interessierte aktiv beteiligen können, bekomme ich diese Informationen. Das ist für mich eine große Unterstützung für die Verhandlung.

Wenn das Ergebnis steht, können die Mitglieder dann wirklich noch Nein sagen, ohne dass der Vorstand als beschädigt gilt?

Natürlich. Wir machen die Mitgliederbefragungen intensiver und länger als früher. In der letzten Tarifrunde im öffentlichen Dienst haben wir zwei Wochen lang unseren Tarifabschluss erklärt – das Problem ist ja, dass so was sehr kompliziert ist. Wir versuchen, sehr sachlich zu informieren und nicht, um die Leute zu beeinflussen, dass sie unseren Vorschlag annehmen.

Dem Schlichterspruch im öffentlichen Dienst stimmten in der Befragung um die 60 Prozent zu. Richtig begeistert wirkten die Mitglieder nicht.

Natürlich hätten wir uns gewünscht, wenn unsere Forderung 100-prozentig erfüllt worden wäre. Aber die Frage ist ja immer, ist das erreichbar? Und es sind am Ende nicht Hauptamtliche und Funktionäre, die entscheiden, sondern eine Tarifkommission aus hundert gewählten Mitgliedern aus allen Bereichen des öffentlichen Sektors. Meine Einschätzung ist: Hätten die Mitglieder den Schlichterspruch abgelehnt, hätte es auch in der Bundestarifkommission eine ernsthafte Diskussion darüber gegeben, ihn nicht anzunehmen. Sie hat das Letztentscheidungsrecht.

2025 findet die nächste Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen statt. Die IG Metall fordert gerade in der Stahlindustrie die 32-Stunden-Woche. Wäre das auch etwas für Sie?

Neben dem Entgelt ist Entlastung ein ganz zentrales Thema. Die Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst werden immer unattraktiver. Die Leute müssen immer mehr arbeiten, weil es immer weniger Personal gibt. Es gibt eine erhebliche Arbeitsverdichtung. Wir haben hohe Krankheitsquoten. Unser erklärter Wille ist es, das anzugehen und 2025, parallel zur Entgeltrunde, das Thema Arbeitszeit zu bearbeiten. Wir werden im Januar eine neue Arbeitszeitumfrage beginnen, um herauszufinden, was die Beschäftigten uns auf den Hausaufgabenzettel schreiben. Geht es um Arbeitszeitverkürzung, geht es um flexible Wahlmöglichkeiten, um Homeoffice?

Könnte es auf ein Wahlmodell wie das der EVG »Zeit gegen Geld« hinauslaufen?

Das lässt sich jetzt noch nicht sagen, da wir zunächst wissen wollen, wo der Schuh drückt. Aufgrund der geringen Vergütungen in einigen Bereichen kann das auch nicht allein die Lösung sein. Die Arbeit im öffentlichen Dienst ist sehr unterschiedlich. Und es gibt schon negative Erfahrungen mit pauschaler Arbeitszeitverkürzung. Mitte der 2000er Jahre haben wir die Arbeitszeit um eine halbe Stunde verkürzt und dafür auf Lohn verzichtet – aber kein einziger wurde neu eingestellt, sondern die Arbeit ist nur verdichtet worden. Deswegen gibt es große Skepsis, ob eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung allein das richtige Mittel ist.

In den nächsten zehn Jahren werden Hunderttausende Verdi-Mitglieder in Rente gehen. Trotz der guten Mitgliederentwicklung 2023: Werden Sie mehr tun können, als den Niedergang verwalten?

Das Durchschnittsalter der Verdi-Mitglieder ist 53. Das liegt auch daran, dass der Dienstleistungssektor über Jahrzehnte von erheblichen Einsparungen betroffen war. Zudem hat insbesondere die Hartz-Gesetzgebung dazu geführt, dass prekäre Arbeit, Befristungen, Minijobs zugenommen haben. Das trifft uns als Gewerkschaft natürlich massiv. Die Frage für uns war, wie organisieren wir insbesondere Kolleginnen – Dienstleistungen sind ein starker Frauenbereich –, die häufig Teilzeit arbeiten, die nur befristet beschäftigt sind, wo es teilweise keine Betriebsräte gibt? Wie schaffen wir es, dass sie sich das nicht mehr gefallen lassen? Daran haben wir das letzte Jahrzehnt hart gearbeitet. Es ist nicht eine einzelne Tarifrunde, die den Turnaround schafft, aber vor dem Hintergrund des heutigen Arbeitskräftemangels haben wir als Organisation die Chance, auf Basis unserer systematischen Vorarbeit sehr viel zu erreichen.

Verdi ist als Gewerkschaft in vielen Bereichen der Daseinsvorsorge tätig. In den USA wird über Streiks fürs Gemeinwohl diskutiert, die über betriebliche Interessen hinausgehen. Sehen Sie darin auch hierzulande Potenzial?

Wir versuchen, unsere Arbeitskämpfe »zu rahmen«. Zum Beispiel im Öffentlichen Personennahverkehr sagen wir, eine Verkehrswende kann nur mit ausreichend Personal gelingen. Und das klappt nur, wenn die Arbeit gut bezahlt wird. Diesen Dreiklang kann man auf viele Bereiche übertragen. Arbeitskämpfe in der Daseinsvorsorge haben immer etwas mit Finanzierung zu tun, mit der Frage, wo legt der Staat seine Prioritäten? Das eine hängt vom anderen ab. Und deswegen gehört es auch zusammen.

Im Nahverkehr arbeitet Verdi mit der Klimabewegung zusammen. Aber der größere Teil der Verdi-Mitglieder ist da nicht direkt dabei. Was tun Sie, um in der Mitgliedschaft allgemein Bewusstsein für notwendige Maßnahmen gegen den Klimawandel zu schaffen?

Es gibt viele weitere Bereiche, wo sich ein Zusammenhang ergibt, wo man bei persönlicher Betroffenheit einhaken kann. Unsere Stadtgärtner und Stadtgärtnerinnen bringen ein hohes Bewusstsein für Klimaschutz mit, in der Stadtverwaltung geht es darum, wie man Räumlichkeiten gegen Hitze dämmt. Es gibt tatsächlich viele Berührungspunkte, an die man vielleicht erstmal gar nicht denkt.

Wie überzeugen Sie die Mitglieder, die z. B. mit dem Auto zur Arbeit pendeln?

Natürlich gibt es auch Ängste. Insbesondere im ländlichen Raum kann man nicht einfach sagen, keiner darf mehr Autofahren. Aber es ist unsere Aufgabe, nach Antworten zu suchen, wie wir die Infrastruktur im ländlichen Raum entwickeln, wo es heute nicht nur wenig Nahverkehr gibt, sondern auch kein Geschäft und keinen Arzt. Wenn wir diese Fragen beantworten, bedeutet das ein Mehr an Lebensqualität für Menschen im ländlichen Raum, und das hat wieder positive Auswirkungen auf das Klima.

Mit Fridays for Future hat Verdi neue Bündnispartner erschlossen, ein ganz altes Band verbindet Gewerkschaften wiederum mit der Sozialdemokratie ...

... ja, aber wir sind nicht das Anhängsel der Sozialdemokratie. Darauf lege ich wirklich Wert. Wir sind bewusst überparteilich, weil wir nicht die Politik einer Partei vertreten. Wir waren immer kritisch auch gegenüber der Sozialdemokratie, die es uns nicht immer leicht macht. Wir pflegen politische Kontakte in alle demokratischen Parteien.

Wo das klargestellt ist: Bundeskanzler Scholz hat in seiner Rede auf dem Bundeskongress viel gesagt, wofür er unter Gewerkschaftern Beifall erwarten kann. Entspricht das aber der Politik der Ampel-Koalition?

Nein. Ich habe mich sehr darüber geärgert, dass er gesagt hat, im Sozialbereich würde nicht gespart und gleichzeitig haben wir einen Haushaltsentwurf vorliegen, der massive Einsparungen im Sozialen vorsieht. Da erwarte ich, dass er seinen Worten Taten folgen lässt und interveniert.

Erweckt so ein Auftritt des Kanzlers nicht aber eher den Eindruck, Bundesregierung und Verdi ziehen an einem Strang?

Es gab eine klare Replik von unserem Vorsitzenden, der deutlich gemacht hat, dass wir in vielen Themen andere Positionen haben.

Verdi fordert jetzt 14 Euro Mindestlohn. Olaf Scholz hat in seiner Rede kritisiert, dass die Mindestlohnkommission gegen die Stimmen der Arbeitnehmerseite beschlossen hat, den Mindestlohn bis 2025 auf 12,82 Euro zu erhöhen. Hilft Ihnen das?

Nein. Es reicht nicht aus. Weil er den Kern nicht kritisiert hat. Das Problem ist die Konstruktion der Mindestlohnkommission, in der die Arbeitgeber mit einem Dritten, der Kommissionsvorsitzenden, gegen die Arbeitnehmer stimmen können. Scholz’ Kritik am Verfahren ist berechtigt. Aber ich hätte mir gewünscht, dass er sagt: Das Ergebnis ist auch schlecht.

Wie wollen Sie mit dieser Kommission die 14 Euro bekommen?

Das bekommen wir mit dieser Kommission jetzt nicht hin. Aber die Bundesregierung hat es in der Hand. Dann muss sie die Mindestlohnkommission anders aufstellen. Oder nochmal einen gesetzlichen Eingriff wie bei der Anhebung auf 12 Euro vornehmen. Wenn die Mindestlohnkommission nicht in der Lage ist, sich zu einigen, weil die Arbeitgeber blockieren, muss der Gesetzgeber eingreifen. Ich bin sicher: Wenn diese Drohung im Raum steht, bewegt sich die Arbeitgeberseite gleich ganz anders.

Die Politik der Ampel und insbesondere ihre Zerstrittenheit wird für den derzeitigen Höhenflug der AfD verantwortlich gemacht. Teilen Sie das?

Es ist nicht die Ampel alleine. Das Thema Rechtsruck ist viel größer. Viele Menschen sind abgehängt. Wenn in vielen Regionen in Deutschland 30, 40 Prozent der Leute lediglich Mindestlohn beziehen, dann läuft etwas schief. Deutschland ist insbesondere bei Dienstleistungen ein echtes Dumpingland. 75 Prozent der erwerbstätigen Beschäftigten arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber es gibt überhaupt keine Aufmerksamkeit für diese 75 Prozent.

Alle reden über den Industriesektor.

Genau. Das ist nicht nur bei der Ampel so, das war bei allen Bundesregierungen der Fall. Dabei kommen auch 70 Prozent der Wertschöpfung aus dem Dienstleistungssektor. Die AfD ist eine rechtsextreme Partei, aber nicht alle AfD-Wählenden sind rechtsextrem. Darunter sind auch Menschen, die keine Perspektive sehen und sich von dieser Regierung im Stich gelassen fühlen. Soziale Fragen müssen daher viel stärker in den Vordergrund kommen. Die Populisten machen es sich einfach und prangern reale oder erfundene Missstände an. Und viele Menschen fallen darauf rein. Wir alle müssten viel stärker dagegen auftreten.

Wie passt das zusammen: überparteilich sein, aber klar Stellung beziehen gegen die AfD?

Es gibt Kollegen, die fragen, wieso seid ihr denn gegen die AfD, die sagen doch die Wahrheit. Dann muss man das sehr sachlich begründen. Wir haben viele Dinge entwickelt, die wir seit Jahren durchführen, Stammtisch-Kämpfer*innen oder kleine Formate wie »Fakten statt Populismus«. Damit gehen wir zum Beispiel in Auszubildenen-Gruppen und schauen uns zusammen an, was da behauptet wird. Wo wir in Kontakt kommen und mit den Beschäftigten reden, fällt uns das leichter. Aber man kann nicht alle erreichen. Das ist das große Problem.

Unterstützen Sie einen Verbotsantrag gegen die AfD?

Das war eine der großen Diskussionen auf dem Bundeskongress. Verdi lehnt jegliche Zusammenarbeit mit rechtspopulistischen, rechtsradikalen und rechtsextremen Parteien, Organisationen und Gruppen konsequent ab. Wer sich als Einzelperson diesen Zielen verschreibt, hat keinen Platz in Verdi.

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