Zeuge von Autoattacke auf Linke: Behaupteter Blackout

Im Prozess um die Autoattacke auf Teilnehmer*innen einer Anti-AfD-Kundgebung in Henstedt-Ulzburg mauert ein damaliger Begleiter von Melvin S.

  • Joachim F. Tornau, Koblenz
  • Lesedauer: 4 Min.

So groß sind die Erinnerungslücken, auf die sich der Zeuge beruft, dass Richterin Maja Brommann schließlich besorgt fragt, ob der junge Mann eine Krankheit habe? Ein Drogenproblem? Irgendetwas, was diese immense Vergesslichkeit erklären könnte? »Nicht, dass ich wüsste«, antwortet der 22-Jährige.

Der leicht untersetzte Mann mit viel Bart und Haupthaar war dabei, als sein Freund, das damalige AfD-Mitglied Melvin S., in Henstedt-Ulzburg mit einem tonnenschweren Pick-up gezielt Teilnehmer*innen einer Kundgebung gegen die Rechtsaußenpartei angefahren und schwer verletzt haben soll. Seit drei Monaten muss sich Melvin S., heute 22 Jahre alt, deshalb wegen des Vorwurfs des versuchten Totschlags vor dem Kieler Landgericht verantworten.

Äußerst maulfaul präsentiert sich der Zeuge, der sich nun an jenen Tag im Oktober 2020 erinnern soll. Einsilbig fallen seine vernuschelten Antworten aus, er ist erkennbar bemüht, möglichst große Distanz zwischen sich und die, wie er sagt, »beschissene Aktion« zu bringen. Nur dass Melvin S. den VW Amarok seiner Mutter plötzlich auf den Gehweg gelenkt und auch ihn dabei fast erwischt habe, will er noch wissen. Danach habe er einen Blackout und könne sich erst wieder daran erinnern, wie ein Demonstrant auf dem Grünstreifen gelegen habe. Ob dieser Mann angefahren wurde? »Weiß ich nicht.«

Auch Melvin S. hatte eine ganz ähnlich große Erinnerungslücke geltend gemacht, auch er will sich nicht mehr erinnern können, dass er mit hoher Geschwindigkeit drei Menschen angefahren und dafür sogar eigens noch einen Schlenker über den angrenzenden Grünstreifen gemacht haben soll. Ein vierter Mann konnte sich gerade noch durch einen Sprung zur Seite retten. Was der Angeklagte dagegen angeblich noch genau wusste: wie einer seiner drei Begleiter von vermummten Gegendemonstrant*innen brutal angegriffen und geschlagen worden sei. So heftig, dass er in einer Art Kurzschlussreaktion mit dem Auto auf sie zugefahren sei. Als dieser Kumpel vor einer Woche als Zeuge im Kieler Gericht auftrat, schrumpfte der vermeintlich lebensbedrohliche Angriff indes auf eine einzige Ohrfeige.

Und auch der nun befragte Mann schildert die Ereignisse weit weniger dramatisch, als er es noch kurz nach der Tat bei der Polizei getan hatte. Aus zwei Schlägen, von denen er damals erzählt hatte, wird einer, ohne größere Folgen: »Ich hab kein Hämatom gesehen, gar nichts.« An einen Tritt, den er selbst abbekommen haben wollte, kann er sich nicht mehr erinnern. Und die Sturmhauben, die sich zumindest einige der Angreifer übergezogen haben sollten, könnten, nun ja, vielleicht auch Corona-Masken gewesen sein.

Nur in einem Punkt ist er sich sicher: dass er zufällig gesehen habe, wie sich ein Mann vor dem Angriff »gepolsterte Handschuhe« angezogen habe. »Ich achte sehr gerne auf Kleinigkeiten«, erklärt er. Erstaunlich angesichts der ungezählten kleinen und großen Fragen, bei denen er die Antwort schuldig bleibt. Rechtsextreme Aufkleber, die Melvin S. und Co am Rande der Kundgebung verklebt haben sollen? Provozierende Fotos mit einer Flasche »Reichsbrause« in NS-Optik, einer von dem bekannten Thüringer Neonazi Tommy Frenck vertriebenen Limonade? Erst erinnert sich der Zeuge auch hier an nichts. Dann macht er allein den Angeklagten dafür verantwortlich. Und dann muss er, konfrontiert mit verräterischen Whatsapp-Chats, einräumen: Ich war’s doch selbst.

Was wiederum eine Erklärung sein könnte für etwas, was der Zeuge selbst nicht so recht erklären kann oder will: warum er, der nie etwas Böses getan haben will und sich nach seinen Worten auch für Politik rein gar nicht interessiert, sofort zu dem auf dem Grünstreifen liegenden Mann ging, um sich zu entschuldigen. Genauso wie sein Begleiter, der gerade noch von den Linken geschlagen worden sein sollte. »Gute Frage«, sagt der 22-Jährige. Und dann, nach längerem Nachdenken: »Wir waren als geschlossene Gruppe da.« Für den Prozess sind noch Verhandlungstage bis Mitte Dezember angesetzt.

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