US-Klinikbeschäftigte am Limit

Doppelschichten und Nächte im Auto: Beim Krankenhausverband Kaiser Permanente wird gestreikt

  • Julian Hitschler
  • Lesedauer: 4 Min.

In den USA folgt derzeit ein Arbeitskampf auf den nächsten: Nachdem UPS-Paketboten nur durch die Androhung eines Streiks einen Rekordtarifvertrag erzielten und Mitglieder der Autogewerkschaft UAW sowie Beschäftigte der Film- und Fernsehbranche in den Ausstand traten, folgte in der vergangenen Woche ein dreitägiger Streik von 75 000 Beschäftigten des gemeinnützigen Gesundheitsverbands Kaiser Permanente, darunter Krankenpfleger, Apothekerinnen, Beschäftigte im Notfalldienst und viele weitere Berufsgruppen in den Bundesstaaten Kalifornien, Virginia, Washington, Colorado, Oregon sowie in der Hauptstadt Washington D. C. Am Samstag nahmen sie die Arbeit wieder auf – ohne, dass eine Einigung erzielt wurde. Sollte es dabei bleiben, könnte ein wesentlich längerer Streik in den Kliniken und Apotheken des Unternehmens, das auch als Krankenversicherer aktiv ist, bevorstehen. Die Verhandlungen mit dem Management sollen am Donnerstag fortgeführt werden, wie das Gewerkschaftsbündnis, das die Kaiser-Beschäftigten zum gemeinsamen Arbeitskampf versammelt hat, gegenüber dem Fernsehsender CNN angab.

Die Kritik der Beschäftigten richtet sich vor allem gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und die chronische Unterbesetzung in den Krankenhäusern. Angeprangert wird der eklatante Widerspruch zwischen der Rhetorik über »Frontbeschäftigte« und »unverzichtbare Arbeitskräfte« während der Corona-Pandemie und dem Mangel an konkreten Verbesserungen für die Arbeiterinnen und Arbeiter im Gesundheitswesen. »Beschäftigte an vorderster Front im Gesundheitswesen sind weiterhin bereit, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um unsere Patientinnen und Patienten vor den Gefahren, die die Unterbesetzung bei Kaiser mit sich bringt, zu schützen und unsere Rechte zu verteidigen«, erklärte das Bündnis. Die geschäftsführende US-Bundesarbeitsministerin Julie Su will den Verhandlungen ebenfalls beiwohnen und als Vermittlerin auftreten. Die größte Einzelgewerkschaft im Verband, die Service Employees International Union (SEIU), kündigte für Anfang November einen »größeren, stärkeren« Streik an. Dann läuft ein Tarifvertrag für Kaiser-Beschäftigte im Bundesstaat Washington im Nordwesten des Landes aus.

Laut den Beschäftigten führt die Zahl der offenen Stellen bei Kaiser Permanente inzwischen dazu, dass sie sich nicht mehr adäquat um ihre Patientinnen und Patienten kümmern können. Daten, die dem Gewerkschaftsbündnis vorliegen, zeigen, dass im April 11 Prozent der Stellen unbesetzt waren, wie der Radiosender NPR berichtet. »Für die Beschäftigten im Gesundheitswesen ist ihr Beruf auch Passion und Berufung«, zitiert der Sender die Vorsitzende des Bündnisses, Caroline Lucas. »Die Leute fühlen sich nicht wohl damit, unter Bedingungen zu arbeiten, die es ihnen nicht erlauben, die bestmögliche Versorgung der Patientinnen und Patienten sicherzustellen«, so Lukas. Laut Beschäftigten habe sich die Krise während der Pandemie deutlich zugespitzt. Die Gewerkschaften werfen Kaiser Permanente vor, nicht an ernsthaften Verhandlungen über eine Lösung interessiert zu sein. Der Krankenhausverband weist die Vorwürfe zurück. Man sei dem Ziel, in diesem Jahr 10 000 neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen, inzwischen sehr nahegekommen, so das Unternehmen.

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Laut Angaben der kalifornischen Sektion der SEIU gegenüber NPR habe man sich bereits am Montag mit Kaiser Permanente darauf geeinigt, dass das Unternehmen die Ausgaben für Aus- und Weiterbildung um 40 Prozent steigern soll. Keine Übereinkunft gibt es hingegen beim zweiten wichtigen Streitpunkt zwischen den Tarifparteien: der Frage von Lohnerhöhungen. Die Gewerkschaften fordern eine Anhebung der Entgelte um 25 Prozent – auch um mehr Beschäftigte im Unternehmen zu halten, wie sie betonen. Dies entspräche wenig mehr als der kumulierten Inflationsrate der letzten vier Jahre, wäre in erster Linie ein Ausgleich für die gestiegenen Lebenshaltungskosten. Kaiser Permanente bietet bislang 12,5 bis 16 Prozent mehr Lohn über vier Jahre – was bezogen auf die reale Kaufkraft einer deutlichen Lohnkürzung gleichkommen würde.

Die Beschäftigten betonen, dass dies für sie nicht hinnehmbar sei. Viele können sich die gestiegenen Lebenshaltungskosten, vor allem in den Großstädten, schlicht nicht mehr leisten. »Gerade schlafen Krankenpflegerinnen und -pfleger aus zwei Gründen in ihren Autos«, so der Kaiser-Beschäftigte und Mitglied der Verhandlungsdelegation Rocio Chacon gegenüber CNN. »Erstens können sie sich die Lebenshaltungskosten vor Ort nicht leisten, sodass sie zwei bis drei Stunden entfernt leben müssen. Außerdem arbeiten sie wegen der Unterbesetzung 14 bis 16 Stunden am Stück und sind übermüdet«, so Chacon. »Ihre beste Wahl ist, von Montag bis Freitag im Auto zu leben.«

Der US-Gesundheitssektor war in den letzten Jahren strategischer Fokus der US-Gewerkschaftsbewegung; in vielen Bundesstaaten gab es massive Organizing-Kampagnen in der Branche. Er wächst besonders schnell und beschäftigt sehr viele Frauen, Migrantinnen und Migranten sowie Angehörige von Minderheiten. In postindustriellen Zentren wie Pittsburgh in Pennsylvania stellt er inzwischen eine Schlüsselbranche dar. Hier versuchen die Gewerkschaften, an bestehende Traditionen anzuknüpfen.

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