AOK-Report: Erschöpft, weil unzufrieden

AOK-Report: Anhaltend hohe psychische Beschwerden unter Beschäftigten

Wer häufig länger bleibt, organisiert die eigene Arbeit schlecht.
Wer häufig länger bleibt, organisiert die eigene Arbeit schlecht.

Bereits seit 25 Jahren gibt es den AOK-Fehlzeitenreport, mit unterschiedlichen Schwerpunkten vom Wido, dem Wissenschaftlichen Institut der AOK, erarbeitet. Die neueste Ausgabe wurde am Mittwoch in Berlin vorgestellt. Wer dachte, die Pandemie ist lange vorbei und auch in Sachen Krankschreibungen könnte langsam wieder Normalität einkehren, hat sich getäuscht.

Die beruflichen Fehlzeiten laut AOK-Routinedaten erreichten im vergangenen Jahr ihren historischen Höchststand: Während in den Jahren 2012 bis 2021 durchschnittlich 160 Arbeitsunfähigkeitsfälle (AU-Fälle) je 100 AOK-Mitglieder verzeichnet wurden, waren es 2022 im Durchschnitt 217 Fälle. Der Anstieg von mehr als 30 Prozent wurde vor allem durch Atemwegserkrankungen verursacht. Durch diese Infekte allein wurden 86 AU-Fälle je 100 AOK-Mitglieder verursacht, in den Vorjahren lag der Wert mit 36 Fällen bei weniger als der Hälfte.

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Da die Erkältungssaison gerade erst angefangen hat, lässt sich zu einer Prognose wenig sagen. Johanna Baumgardt, Wido-Forschungsbereichsleiterin und Mitherausgeberin des Fehlzeitenreports, geht davon aus, dass es sich in Sachen Infekte um eine Art Ausreißersaison handelte. Spätfolgen der Pandemiemaßnahmen, die vorübergehend, aber eben nicht auf Dauer vor Ansteckung schützten, dürften daran ihren Anteil haben.

Der diesjährige Report setzte jedoch einen anderen Schwerpunkt, der zudem auf eine langfristige Entwicklung hinweist: Denn die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen nahmen von 2012 bis 2022 um 48 Prozent zu, während es bei allen anderen Krankheiten »nur« 35 Prozent waren. Lange Fehlzeiten aufgrund psychischer Leiden sind kein neues Phänomen. Im Vorjahr schlug jeder dieser Fälle mit 30 Fehltagen zu Buche, bei den Atemwegserkrankungen waren es sieben Tage. Am stärksten betroffen waren bei den psychischen Erkrankungen aktuell die Berufe des Gesundheits- und Sozialwesens, gefolgt von den Bereichen öffentliche Verwaltung/Sozialversicherung sowie Banken und Versicherungen.

Die stetig steigenden Fehlzeiten wegen psychischer Beschwerden könnten jedoch von Dauer sein: Nicht nur die Corona-Pandemie, auch weitere aktuelle Krisen und technologische Umbrüche zeigen ihre Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Unter den 20 häufigsten Einzeldiagnosen in der AOK-Untersuchung finden sich die Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43 laut Diagnoseschlüssel ICD10) sowie die depressiven Episoden (F32). Sie verursachen zwar nur 1,2 bzw. 0,8 Prozent der AU-Fälle, deutlich größer ist ihr Anteil an den AU-Tagen: Hier sind es 2,5 bzw. 2,9 Prozent.

Das Wido wollte es nun genauer wissen und über die Auswertung der AOK-Abrechnungsdaten hinausgehen. Im Februar 2023 wurde zum Thema eine repräsentative Befragung von Beschäftigten durchgeführt. Fast die Hälfte dieser Personen hatte in ihren Betrieben starke bis sehr starke Veränderungen wahrgenommen. Als Treiber dafür wurde die Covid-19-Pandemie genannt, gefolgt von technologischen Entwicklungen. Trotz großer gesellschaftlicher Umbrüche, unter anderem durch die Folgen des Ukraine-Krieges, gaben nur 8 Prozent der Befragten Zukunftsangst in Bezug auf ihre Arbeitgeber an. In Bezug auf die gesamtgesellschaftliche Situation ängstigten sich jedoch deutlich mehr, nämlich 35 Prozent der Befragten.

Arbeit gut, alles gut – das wäre dennoch eine falsche Schlussfolgerung. Denn die Befragung ergab auch, dass die Beschäftigten unter hohen psychischen Beschwerden leiden, die sich aus ihrer Arbeit ergeben. Am häufigsten wurden hier Erschöpfung, Wut und Verärgerung sowie Lustlosigkeit genannt. Verglichen mit Befragungsdaten von 2020 bis 2022 haben alle selbst berichteten arbeitsbezogenen Beschwerden seit Beginn der Pandemie zugenommen. Das betrifft auch die Punkte Nervosität und Reizbarkeit, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen, Zweifel an den eigenen Fähigkeiten und Angstgefühle bei und vor der Arbeit. In der Mehrzahl sind die Beschwerden 2023 zwar leicht zurückgegangen, aber bei fast allen Themen liegen die aktuellen Ergebnisse über dem Vor-Pandemie-Niveau.

Ein enger Zusammenhang wurde zwischen der Zukunftsfähigkeit von Unternehmen und der Gesundheit ihrer Beschäftigten gefunden: Wird die »Gesundheit« der Firma positiv bewertet, sind nach Angaben der Mitarbeiter auch sie selbst weniger krank, nämlich im Schnitt knapp 12 Tage in den letzten 12 Monaten vor der Befragung. Bei einer eher schlechten Beurteilung der Zukunftsfähigkeit steigt die Zahl der Krankentage im Schnitt auf 16. Gleich welcher Art Veränderungen in Unternehmen sind und welche Ursache sie haben, es sollte darauf reagiert werden.

Allein aus der Einführung des Homeoffice ergeben sich Anforderungen an alle Beteiligten: »Führung auf Distanz und Selbstorganisation wollen gelernt sein«, meint Bernhard Badura dazu, emeritierter Professor von der Universität Bielefeld und Mitherausgeber des Reports. Zudem gebe es viele lange bekannte Faktoren, die Beschäftigte psychisch beeinträchtigen, darunter mangelhafte Arbeitsorganisation und Transparenz oder fehlende Rückmeldungen zur geleisteten Arbeit. Badura sieht Führungskräfte als wichtigste Zielgruppe für die betriebliche Gesundheit der Beschäftigten. Sie müssten in der Lage sein, Mitarbeiter zu binden und nicht nur zu kontrollieren. Am Ende erhöhe das die Produktivität des Unternehmens und stärke auch die Lebensqualität der Beschäftigten.

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