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40 Jahre Friedensdemo in Bonn: Blick zurück nach vorn

1983 demonstrierten über eine Million Menschen gegen Hochrüstung. Warum zieht das Friedensthema heute nicht mehr?

Auch nach der Zustimmung des Bundestags gingen die Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss weiter, etwa hier 1984 in Mutlangen, wo die Pershing-II-Raketen stationiert wurden.
Auch nach der Zustimmung des Bundestags gingen die Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss weiter, etwa hier 1984 in Mutlangen, wo die Pershing-II-Raketen stationiert wurden.

Eine halbe Million Rüstungsgegner im Hofgarten in Bonn, Hunderttausende in anderen Großstädten sowie bei einer 108 Kilometer langen Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm: Vor 40 Jahren, am 22. Oktober 1983, gingen mehr als eine Million Menschen in Westdeutschland gegen atomares Wettrüsten auf die Straße. Es war die größte Demonstration in der bundesdeutschen Geschichte. Sie bildete den Abschluss der drei Großdemonstrationen der westdeutschen Friedensbewegung zwischen 1981 und 1983 gegen den Nato-Doppelbeschluss. 1979 hatte das Militärbündnis entschieden, Verhandlungen über den Abbau der sowjetischen Mittelstreckenwaffen zu führen und bei einem Scheitern ab Ende 1983 ebenfalls mobile Mittelstrecken-Raketen in Europa zu stationieren. Eine Rüstungsspirale, der sich immer mehr Menschen entgegenstellten. Viele trieb die unmittelbare Angst an, zum Opfer eines Atomkriegs werden zu können.

Heute ist die Welt eher unfriedlicher als damals. Kriege finden in unmittelbarer Nähe statt. Warum ist es trotzdem so schwer, eine größere Bewegung dagegen zu formen?

Andreas Zumach war hauptverantwortlich für die Organisation der drei großen Friedensdemonstrationen Anfang der 80er Jahre: »Ein ganz wichtiges Element der Mobilisierung war die Basiskampagne für atomwaffenfreie Städte und Kommunen«, erläutert er dem »nd«. Gestartet 1978 hatten sich am Ende über 1000 deutsche Städte und Kommunen für atomwaffenfrei erklärt und das über ihre schwarz-gelben Aufkleber auf den Ortsschildern gezeigt. »Sowas bräuchten wir heute auch«, findet Zumach.

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Damals war er einer der beiden Sprecher des Koordinierungsausschusses Friedensbewegung, der von 30 sehr heterogenen, aber fein austarierten Organisationen getragen wurde. Deren Klammer: die Konzentration auf ein Waffensystem und eine prägnante Kernforderung »Verhinderung der Nato-Nachrüstung und Überwindung der atomaren Abschreckungspolitik«. »Unser gemeinsames Ziel war immer: Verbreiterung in die politische Mitte hinein. Hin zu Sozialdemokraten, Gewerkschaften, Christdemokraten«, erklärt Zumach, später langjähriger UN-Korrespondent für die Taz und zahlreiche andere Medien. Über mehrere Jahre arbeitete dieses Bündnis kontinuierlich darauf hin, immer breitere Teile der Gesellschaft zu erreichen und vor allem die Position der SPD zu drehen.

Noch bei der ersten Demonstration 1981, zu der sich bereits 300 000 Menschen im Bonner Hofgarten versammelten, kritisiert Bundeskanzler Helmut Schmidt seine Genossen Erhard Eppler und Oskar Lafontaine öffentlich dafür, weil sie dort sprechen wollen. Schmidt hatte sich als Kanzler vehement für die Aufrüstung mit Pershing II stark gemacht. Zwei Jahre später, 1983, steht in Bonn der SPD-Vorsitzende Willy Brandt auf der Bühne und stellt sich gegen die Politik von Helmut Kohl und Helmut Schmidt. Erstmals sind bei dieser Demo auch »Christdemokraten für Schritte zur Abrüstung« und kritische Soldaten rund um das Darmstädter Signal dabei. Trotz der Breite der Bewegung gibt es ein gemeinsames Aktionsverständnis. Zumach betont, die Gruppen hätten nicht versucht, »mit eigenen, fremden Inhalten bei den Friedensdemos aufzutreten« – wie es 40 Jahre später regelmäßig der Fall ist.

Die heutige Friedensbewegung ist seit Beginn des Ukrainekriegs, tatsächlich aber bereits früher, seit der Annexion der Krim durch Russland 2014, tief gespalten über die Frage, wie sie die Politik Putins und die Verantwortung der Nato-Staaten bewertet. Eng verknüpft damit ist die Frage, ob sie mit dem Verschwörungsspektrum, aus dem sich später die Querdenker entwickelt haben, und neuerdings sogar mit dem AfD-Umfeld kooperieren sollte, weil es bei einem Teil der Forderungen Überschneidungen gibt.

Mit Blick auf die 80er Jahre sagt Zumach: »Kontroversen gab es in der Anfangszeit einige, aber die Debatte über Rechtsoffenheit, die wir heute haben, ob wir ein Bündnis eingehen sollten mit Leuten, die gegen Demokratie sind, die gab es damals überhaupt nicht.« Heftig umstritten sei vielmehr die Frage der Aktionsformen gewesen: »Setzen wir nur auf klassische Demos oder auch andere Formen wie Blockaden?« Daneben gab es parteipolitische Rangeleien. Teile der Grünen, erläutert Zumach, hätten Sorge gehabt, dass ihnen die inzwischen oppositionelle SPD in der Friedensfrage den Rang ablaufen könnte. Das DKP-Spektrum wiederum sah Probleme in dem Anspruch der Grünen, mit den oppositionellen DDR-Friedensgruppen zusammenzuarbeiten. Die Kontroverse löste sich irgendwann auf. 1983 trat der erste Redner von »Schwerter zu Pflugscharen« bei einer westdeutschen Friedensdemo auf.

Dass sich eine gemeinsame Lösung für die aktuellen Auseinandersetzungen in der Friedensbewegung findet, ist kaum vorstellbar. »In Teilen der Friedensbewegung findet ein Kurswechsel statt. Einige Teile sind offen für Corona-Leugner und Verschwörungsmythen. Dabei spielt auch die Hoffnung eine Rolle, dadurch größer zu werden«, sagt Michael Schulze von Glaßer, politischer Geschäftsführer der DFG-VK, der ältesten deutschen Friedensorganisation. Er selbst ist 1986 geboren, die Hofgartendemonstrationen kennt er nur aus Berichten. Sein Eindruck: »Manche Ältere, die den Hofgarten erlebt haben, haben die ganze Zeit im Kopf, dass man sowas wieder hinkriegen müsste.« Aber statt sich wie in den 80ern um Gewerkschafter, Sozialdemokraten oder auch Grüne zu bemühen, sucht man rechts nach neuen Mitstreitern.

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Michael Schulze von Glaßer kritisiert, dass Aufrufe auf eindeutige Aussagen, die Rechte abschrecken, verzichten. Für ihn wären das etwa Asyl für Deserteure und Kriegsdienstverweigerer und mehr humanitäre Hilfe für Menschen in der Ukraine. Die Logik in Teilen der Friedensbewegung, so sieht es der DFG-Geschäftsführer: »Der Feind meines Feindes ist mein Freund.« Weil Bundesregierung und Nato für die Ukraine sind, sei man nach diesem Schema für die andere Seite.

Auch Andreas Zumach sagt: »Man kann Aufrufe so formulieren, dass ein Herr Chrupalla das nicht unterzeichnen kann.« Die AfD sei die »militaristischste aller Parteien«, auch wenn sie sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine ausspricht. »Das muss die Friedensbewegung klar so benennen.«

Nur um welche Forderung ließe sich eine Bewegung versammeln?

Zumach sagt: »In der Ukraine braucht es einen Waffenstillstand und einen Verhandlungsprozess, aber dafür müssten die Voraussetzungen ausbuchstabiert werden. Das lässt sich nicht in eine einfache Parole packen.« Schulze von Glaßer hält Massenmobilisierungen daher gerade für »kaum realisierbar« und plädiert eher für »kleinere, bildstarke Aktionen, mit denen man Menschen über die Medien erreicht«.

Bleibt die Friedensbewegung dann also erstmal so schwach, wie sie derzeit ist? Ganz so pessimistisch ist Zumach nicht: Er hat seit Beginn des Ukrainekriegs 166 Redeauftritte zum Thema absolviert, in größeren wie kleineren Städten. »Es gibt einen ungeheuren Bedarf an Diskussion, viele fühlten sich allein mit ihren Zweifeln, mit ihren Ängsten, mit ihrem Widerspruch.« Jede Woche finden Dutzende Friedensveranstaltungen in Deutschland statt. Bei seinen Vorträgen hört Zumach oft Klagen über die jüngere Generation, die sich nicht für Friedenspolitik interessiere. Er mag darin nicht einstimmen. »Selbst wenn sie sich sogar für Waffenlieferungen aussprechen, damit die Ukraine sich selbst verteidigen kann, bedeutet das doch nicht, dass sie deshalb auch für das 2-Prozent-Ziel der Nato sind, für das massive Aufrüstungsprogramm, das wir gerade erleben.«

Bekanntlich haben auch massenhafte Proteste wie in den 80er Jahren gegen die Nachrüstung keine Erfolgsgarantie. Nur einen Monat nach dem Aktionstag stimmten Union und FDP im November 1983 für die Stationierung der US-Raketen. Alles vergeblich? Für Zumach nicht. Er findet es falsch, nur auf die Niederlage im November ’83 zu schauen, denn im Dezember ’87 verständigen sich USA und Sowjetunion auf den vollständigen Abzug und die Verschrottung aller Mittelstreckenraketen, also auch der gerade erst stationierten Pershing II. »Erstmals in der Geschichte wird mit dem INF-Vertrag eine gesamte Kategorie von Waffen vollständig verschrottet, nicht nur zahlenmäßig reduziert«, unterstreicht der Friedensaktivist.

Die offizielle Geschichtsschreibung vertrete immer noch, es sei gelungen, die Sowjetunion totzurüsten. »Das ist Quatsch«, meint Zumach. Ohne die Friedensdemonstrationen in Westeuropa, in erster Linie in Westdeutschland, aber auch in den anderen Staaten, hätte Michail Gorbatschow niemals die innenpolitischen Spielräume für einseitig kalkulierte Abrüstungsschritte gehabt. »Ohne die Massenmobilisierungen der Friedensbewegung wäre es dazu nicht gekommen.«

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