Argentinien: Massa besiegt den Löwen

In Argentinien trifft der Wirtschaftsminister in der Stichwahl auf den ultrarechten Javier Milei

  • Jürgen Vogt
  • Lesedauer: 5 Min.

Argentinien hat am 19. November die Wahl zwischen Sergio Massa und Javier Milei. Damit war laut Umfragen zu rechnen, jedoch mit umgekehrter Reihenfolge. Für die große Überraschung sorgte Wirtschaftsminister Sergio Massa von der linksprogressiven Regierungsallianz Unión por la Patria (Union für das Vaterland), der sich mit 36,7 Prozent der Stimmen klar an die Spitze setzte. Mit knapp 30 Prozent der Stimmen kam der selbsterklärte Anarcho-Kapitalist und favorisierte Javier Milei lediglich auf den zweiten Platz. Patricia Bullrich von der rechtsliberalen Oppositionsallianz Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wechsel) landete abgeschlagen auf dem dritten Platz. Mit nur 23,8 Prozent erzielte sie eines der schlechtesten Ergebnisse ihrer Allianz in den vergangenen Jahren. Abgeschlagen liefen der peronistische Gouverneur Juan Schiaretti mit 6,8 Prozent sowie die linke Myriam Bregman ein, die 2,7 Prozent erhielt.

Der Wahlsonntag war ruhig und ohne größere Zwischenfälle verlaufen. Von den 35,4 Millionen Wahlberechtigten gingen 78 Prozent zu den Urnen – es herrscht Wahlpflicht. Im Vergleich zu den Vorwahlen im August gaben am Sonntag etwa 2,5 Millionen Wahlberechtigte mehr ihre Stimme ab. Und während Massa im Vergleich zu den Vorwahlen um rund 2,9 Millionen Stimmen zulegen konnte, waren es bei Mileis nur etwa 500 000.

»Wir haben das Ziel verfehlt«, räumte Patricia Bullrich unumwunden die Niederlage ein. Zwar indirekt, aber deutlich rief sie ihre Anhängerschaft zur Unterstützung Mileis in der Stichwahl auf. »Nie werden wir uns zum Komplizen des Populismus machen, der unser Land in die Armut getrieben hat«, sagte Bullrich.

Auch wenn Milei, der sich selbst als Löwe und König einer verlorenen Welt stilisiert, ungefährdet in die Stichwahl einzog, ist sein Stimmergebnis ein klarer Rückschlag für den rechtsextremen Senkrechtstarter. Bei den Vorwahlen im August hatte er für die große Überraschung gesorgt, als er von allen Kandidat*innen die meisten Stimmen erhielt. Zwischenzeitlich wurde ihm sogar zugetraut, die Präsidentschaftswahl im ersten Wahlgang zu gewinnen. Dennoch bezeichnete er sein Ergebnis als historisch. »Vor zwei Jahren hätten wir doch nicht geglaubt, in die Stichwahl zu kommen«, rief er seinen Anhänger am Wahlabend zu, um im Angriffsmodus gleich den Wahlkampf für die zweite Runde zu eröffnen: »In vier Wochen stehen zwei Modelle zur Wahl: das der Freiheit und das des Populismus.« Zwei Drittel der Wahlberechtigen hätten am Sonntag gegen den Populismus gestimmt. »Alle, die den Wechsel wollen, müssen jetzt zusammenarbeiten«, sagte Milei in Richtung Juntos por el Cambio.

Überraschungssieger Sergio Massa zeigte sich moderat, aber sichtlich bewegt von seinem unerwartet guten Ergebnis. »Wir sind die Garanten für Stabilität und Seriosität«, sagte Massa, der in seiner Rede auf die Mitte zielte und die Einheit beschwor. Allein auf der Bühne und nicht umringt von der üblichen Schar an Getreuen und Parteigrößen, inszenierte er sich als Garanten des Erfolgs. Weder der amtierende Präsident Alberto Fernández noch die mächtige Vizepräsidentin Cristina Kirchner spielten am Wahlabend eine Rolle oder wurden gar erwähnt.

In sehr staatsmännischer Manier versprach Massa, als Präsident eine Regierung der nationalen Einheit einzuberufen, an der sich die Besten beteiligen würden, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit. Er wandte sich speziell an die Wahlberechtigten, die für die ausgeschiedenen Kandidat*innen gestimmt hatten, und damit auch an einen gewichtigen Teil der Oppositionsallianz Juntos por el Cambio. In den nächsten vier Wochen werde er alles versuchen, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Gemeint sind zum einen die 6,8 Prozent der Wähler, die für den peronistischen Kandidaten Juan Schiaretti stimmten, sowie die 2,7 Prozent, die für die linke Myriam Bregman votierten, als auch die Anhängerschaft der sozialdemokratischen Radikalen Bürgerunion (UCR), die sich als Teil der Allianz Juntos por el Cambio in der Stichwahl neu entscheiden muss.

In der Oppositionsallianz knirscht es ohnehin schon lange und kräftig. Die Wahlschlappe ihrer Kandidatin Bullrich könnte in den kommenden Tagen zum Bruch führen. Dann würde sich die UCR vermutlich auf Massa zubewegen und die Partei des ehemaligen konservativen Präsidenten Mauricio Macri, PRO, in Richtung Milei.

Sollte Sergio Massa die Stichwahl am 19. November gewinnen, dann müssten die Anleitungen für eine erfolgreiche Präsidentschaftswahl um ein Kapitel erweitert werden: Wie wird man Präsident, während man als Wirtschaftsminister für eine jährliche Inflation von 140 Prozent und 40 Prozent der Bevölkerung in Armut maßgeblich verantwortlich ist?

Zur Wahl standen auch 130 der 257 Sitze im Abgeordnetenhaus sowie 24 der 72 Senatoren. Und auch hier musste die Oppositionsallianz Juntos por el Cambio kräftig Federn lassen. Während sie im Abgeordnetenhaus 25 Mandate verliert, sind es im Senat neun Mandate. Bei der Unión por la Patria gab es Licht und Schatten. Zukünftig stellt sie zehn Abgeordnete weniger, aber zwei Senatsmandate mehr.

Die großen Gewinner sind Milei und seine Partei La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran) mit 34 zusätzlichen Abgeordneten und acht Mandaten mehr im Senat. Allerdings verfügt auch im zukünftigen Kongress keine Allianz über eine eigene Mehrheit. Das gilt auch für den zukünftigen Präsidenten, sei es Massa oder Milei.

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