Sexualisierte Gewalt in Berlin immer sichtbarer

Seit Jahren gehen mehr Anzeigen bei der Polizei ein, aber der Rechtsweg bleibt für Betroffene hürdenreich

  • Thuy-An Nguyen
  • Lesedauer: 5 Min.
Immer mehr Betroffene von sexueller Gewalt trauen sich, Hilfe zu holen und Täter anzuzeigen.
Immer mehr Betroffene von sexueller Gewalt trauen sich, Hilfe zu holen und Täter anzuzeigen.

Gewalt zu erfahren ist für Betroffene nicht nur belastend, sondern oft auch schambehaftet. Sich in diesem Falle Außenstehenden anzuvertrauen, kann deshalb eine enorme Hürde sein. Zumindest Betroffene von sexualisierter Gewalt gehen diesen Schritt immer häufiger. Darauf deuten Angaben aus einer Antwort der Senatsverwaltung für Inneres und Sport auf eine Schriftliche Anfrage der Grünen-Abgeordneten Bahar Haghanipour. Demnach ist die Zahl der Betroffenen im Zeitraum von 2018 bis 2022 um einiges gestiegen: So erfasste die Polizei 2018 in ihren Statistiken knapp 3320 sexualisierte Straftaten gegen weibliche Personen. Im Jahr 2022 ist die Zahl auf rund 3860 gestiegen.

Expert*innen zufolge deutet das nicht eindeutig darauf hin, dass es auch tatsächlich zu mehr sexualisierter Gewalt gekommen ist. Beratungsstellen für Betroffene haben gerade im Zuge der Corona-Pandemie zwar einen erhöhten Beratungsbedarf festgestellt. Die gestiegenen Zahlen lassen sich jedoch auch darauf zurückführen, dass sich Betroffene immer häufiger trauen, zur Polizei zu gehen. »Ein Anstieg in einer derartigen Größenordnung deutet darauf hin, dass mehr Betroffene Anzeige erstatten, insgesamt mehr darüber gesprochen wird und dass es mehr Hilfen gibt«, sagt eine Beraterin der Mädchen*beratungsstelle Wildwasser im Gespräch mit »nd«. Die Zahlen geben Fachkräften zufolge Einblick in das Hellfeld; das Dunkelfeld bleibt trotz gestiegenen Bewusstseins vermutlich nach wie vor hoch.

Allein den Weg zu gehen, eine polizeiliche Anzeige zu erstatten, kann bereits eine Hürde sein. Oftmals stellt nicht nur die Gewalterfahrung selbst eine Belastung dar, sondern auch das, was danach passiert. Das hängt auch mit wesentlichen institutionellen Problemen zusammen: Denn die Zahlen der erfassten Straftaten geben keinen Hinweis darauf, wie oft Täter im Anschluss tatsächlich vor Gericht stehen. »Nur bei fünf Prozent der Anzeigen kommt es tatsächlich zur Verurteilung. Das sagt viel über das Rechtssystem aus und darüber, wie ermittelt wird, wenn Betroffene Anzeige erstatten«, sagt die Sprecherin von Wildwasser.

Institutionelle Schwierigkeiten verschiedenster Formen können sich dabei aneinanderreihen: Polizist*innen, die Opfern nicht glauben oder sie nicht ernst nehmen, oder Befragungen, die in einem Raum mit den Angeklagten stattfinden. Viele Betroffene schrecken angesichts solcher Umstände davor zurück, überhaupt den Schritt zur Polizei zu gehen. »Die Scham über die Gewalterfahrung, die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, sowie die Polizei als Institution – das sind Kriterien, die es Betroffenen schwermachen, Täter anzuzeigen«, betont Nua Ursprung, Sprecherin der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) zu »nd«. Nichtsdestotrotz: Ein breiteres öffentliches Bewusstsein in der Gesellschaft und zunehmende mediale Aufmerksamkeit tragen dazu bei, Betroffenen die Hürden zu nehmen.

Wie aus der Senatsantwort hervorgeht, sind ebenfalls die Zahlen der erfassten sexuellen Gewalttaten im öffentlichen Raum gestiegen: Von knapp 1030 im Jahr 2018 auf 1330 in 2022. Wobei es keine eindeutige Definition für den Begriff »öffentlicher Raum« gibt. Die Senatsverwaltung für Inneres greift in ihrer Antwort daher auf Ortsbezeichnungen zurück, die »eindeutig dem öffentlichen Raum zuzuordnen sind«, etwa Straßen, Gehwege, Wälder oder Parkplätze. Dass der öffentliche Raum als Kategorie nicht erfasst ist, deutet der Abgeordneten Bahar Haghanipour zufolge darauf hin, dass bislang keine gute Datenlage vorliegt.

Die Abgeordnete fordert allgemein, dass eine differenziertere Datenerhebung über sexualisierte Gewalttaten erfolgen muss: Aus den Statistiken müsse deutlicher hervorgehen, wer in welcher Form betroffen ist, ob es etwa Frauen sind oder queere Personen, ob Betroffene deutsche Staatsangehörige sind oder nicht. Nur so könnten konkrete Hilfsangebote entwickelt und die staatliche Schutzpflicht garantiert werden, sagt Haghanipour im Gespräch mit »nd«. »Oft sind Menschen mit weniger Privilegien gefährdeter und werden leichter Betroffene von Gewalttaten«, ergänzt auch die Sprecherin der Mädchen*beratung Wildwasser.

Schließlich zeigen die Zahlen, dass ein größerer Teil der Straftaten im privaten Raum begangen wird. Fachkräften zufolge ist das ein Hinweis darauf, dass sexualisierte Gewalt vergleichsweise weniger im öffentlichen Raum geschieht und das Bild des »Fremdtäters« eher im kleinen Bereich liegt.

Fast zeitgleich mit der Schriftlichen Anfrage Haghanipours ging im Übrigen eine Anfrage des Abgeordneten Antonin Brousek (fraktionslos, zuvor AfD) zu Straftaten in Parks ein. Aus einer Antwort der Senatsverwaltung für Inneres und Sport geht hervor, dass sich die Zahl der Sexualdelikte in mehreren Berliner Parkanlagen von 2021 bis 2023 zwischen drei und elf Taten bewegt. Im Görlitzer Park etwa, der im Sommer wegen einer mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung einer Frau in die Diskussion geriet, wurden im Jahr 2023 sieben Straftaten erfasst – genauso viele wie im Tiergarten. Für Haghanipour ist das ein Anzeichen dafür, dass die politische Diskussion um den Görlitzer Park »aufgeheizt« sei und oft »nicht sachlich geführt« werde.

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