Glyphosat in Frankreich: Postkoloniales Pestizid

Die Debatte um das Pflanzengift Glyphosat reiht sich in Frankreich in eine Geschichte der Pestizidskandale ein, die auch eine koloniale Dimension hat

  • Lea Gekle
  • Lesedauer: 7 Min.
Das Pestizid Glyphosat bleibt in der EU legal – trotz zahlreicher Kritiken und Risiken.
Das Pestizid Glyphosat bleibt in der EU legal – trotz zahlreicher Kritiken und Risiken.

Glyphosat ist ein umstrittenes Pflanzengift, die Auseinandersetzung um dessen Einsatz in vollem Gange. Das hocheffektive Pestizid gilt als wahrscheinlich krebserregend und Umweltorganisationen machen es mitverantwortlich für das Artensterben. In der EU soll es trotzdem erst einmal weiter eingesetzt werden.

Auch in Frankreich wird über die Verlängerung heftig gestritten. Beim ersten Wahldurchgang zur Zulassungsverlängerung in der Europäischen Kommission am 13. Oktober 2023 hat sich Frankreich enthalten. Die französische Regierung will so vor allem Zeit gewinnen, um weitere Bedingungen auszuhandeln, wie unter anderem eine Verkürzung der Zulassung auf sieben Jahre. Im Berufungsausschuss, der am 16. November zusammenkam, enthielt sich Frankreich erneut. Durch die fehlende qualifizierte Mehrheit in der Abstimmung muss nun die EU-Kommission selbst über die Genehmigung entscheiden und kündigte eine Verlängerung der Glyphosatzulassung um weitere zehn Jahre an. Die Debatte darum zeigte immer wieder, dass die Auseinandersetzung oft zu kurz greift. Die Substanz selbst und ihre Verwendung haben eine politische Dimension, die von der Wirtschaftspolitik bis zum kolonialen Erbe Frankreichs reicht.

Mehr als ein Pflanzengift

Die Geschichte der französischen Umweltpolitik unter Präsident Emmanuel Macron lässt sich am Umgang mit Glyphosat schreiben, es ist eine Geschichte der immer deutlicheren Zuwendung zur industriellen Landwirtschaft und einer produktivistischen Umweltpolitik, die an ständigem wirtschaftlichem Wachstum ausgerichtet ist. Deshalb überraschte Macron mit der Ankündigung des Verbots von Glyphosat im Jahr 2017 nicht nur seine eigenen Reihen. Drei Jahre später, 2020, war das Verbot denn auch in weite Ferne gerückt und heute, sechs Jahre nach Macrons Verbotsforderung, enthält sich Frankreich beim Verlängerungsantrag von Glyphosat aus strategischen Gründen.

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Während seines ersten Mandats war Macrons Regierung mit dem Versprechen einer progressiven Umweltpolitik angetreten; die Vergabe des Umweltministeriums an den (ehemaligen) Grünen Nicolas Hulot sollte ein Zeichen dafür setzen. Ziemlich schnell jedoch verschob sich das Kräfteverhältnis zuungunsten der Grünen auch innerhalb der Regierungspartie Renaissance, damals noch La République en Marche. 2018 schon wurde ein neues Gesetz zum »Gleichgewicht der Handelsbeziehung in der Landwirtschaft« – das sogenannte »Loi EGalim« – verabschiedet, in dem das Verbot von Glyphosat nicht verankert ist. Diese Entwicklung ist heute umso deutlicher: In der Diskussion um die Glyphosatverlängerung verschiebt sich, trotz der Änderungsforderungen, die an die Europäische Kommission gestellt werden, der Fokus. Die umwelt- und gesundheitspolitische Perspektive rückt in den Hintergrund, während die agrarwirtschaftliche Debatte umso zentraler wird.

Bereits 2017 war in den sogenannten Monsanto Papers der Skandal um den Glyphosathersteller aufgedeckt worden, außerdem gab es heftige Kritiken von Forscher*innen zur Mangelhaftigkeit der Studien zu Glyphosat der European Food Safety Authority. Dennoch hält der französische Landwirtschaftsminister Marc Fesneau an der Verlängerung der Glyphosatzulassung fest. Die Toxikologin am Institut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt (INRAE) Laurence Huc warnte in einem Interview im September 2023 mit der französischen Internetzeitung »Mediapart«, dass nicht nur die bereits jetzt festgestellte Wahrscheinlichkeit eines erhöhten Risikos für Non-Hodgkin-Lymphome bei Landwirt*innen durch Glyphosat zu Vorsicht mahnen müsse. Ganz besonders kritisiert sie die Studie der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) wegen ihrer Unzulänglichkeit bei der Untersuchung der Konsequenzen von Glyphosat auf das Ökosystem und auf mikobiotischer Ebene.

Ungleiche Betroffenheiten

Pierre Sabatier, Geologe und Koautor einer 2021 veröffentlichten Studie in der Fachzeitschrift »Environmental Science and Technology«, drückt im Gespräch mit dem »nd« ebenfalls seine Bedenken aus: »Das Problem ist, dass sich zu sehr auf die direkten gesundheitlichen Schäden fokussiert wird«. Glyphosat habe »auch andere, schwerwiegende Auswirkungen« auf das Ökosystem. Eine dieser Auswirkungen untersucht die von Sabatier mitverfasste Studie »Evidence of Chlordecone Resurrection by Glyphosate in French West Indies«. Sie analysiert die Konsequenzen von Glyphosat auf Böden, die bereits anderen Pestiziden – in diesem Fall Chlordecon – ausgesetzt waren und konnte nachweisen, dass die durch Glyphosat ausgelösten Bodenerosionen Giftstoffe, insbesondere das Pestizid Chlordecon, in die Ökosysteme der Küsten und Wasserläufe transportiert wird. Die Tragweite ihrer Erkenntnisse machen die Autoren in ihrem Schlusswort deutlich: »Da Glyphosat weltweit eingesetzt wird, müssen die ökotoxikologischen Risikobewertungen (…) der Restmobilität von Pestiziden in der Umwelt durch Herbizid induzierte Erosion berücksichtigt werden.«

Diese Doppelbelastung der Böden betrifft in Frankreich ganz besonders die Überseegebiete. Seit dem Gesetz der »Departementalisierung« von 1948 sind die Karibikinseln Martinique, Guadeloupe, die Insel Réunion und das in Südamerika liegende Französisch-Guayana französische Departements. Der volle Zugang zum Sozialstaat erfolgte allerdings erst 1996. Diese französischen Staatsgebiete außerhalb Europas sind zum einen wichtige Produzenten der französischen Landwirtschaft und zeigen zum anderen die postkoloniale Dimension von umweltschädlichen Pflanzengiften und Pestiziden auf.

Auf Martinique und Guadeloupe wird nicht nur viel Glyphosat eingesetzt, hier hat auch einer der größten Umweltskandale Frankreichs der letzten Jahrzehnte stattgefunden: der Gebrauch von Chlordecon trotz Wissens über dessen Giftigkeit. Das ab 1972 eingesetzte, 1990 vom französischen Staat verbotene und bis 1993 mit einer Ausnahmeregelung auf Martinique und Guadeloupe weiterhin angewendete Schädlingsbekämpfungsmittel Chlordecon wird als »extrem giftig« eingestuft und ist unter anderem für einen Anstieg an Prostatakrebs in der Region verantwortlich.

Eine (post-)koloniale Dimension

Der Philosoph und Umweltingenieur Malcom Ferdinand untersuchte in seiner 2019 erschienenen Dissertation »Eine dekoloniale Ökologie« die koloniale Dimension des Chlordecon-Skandals. Auf sehr eindrucksvolle Weise zeigt Ferdinand, dass dies nicht einfach ein Umweltskandal unter vielen war. Es handele sich vielmehr um die wissentliche Vergiftung von Böden, der die Bevölkerung von Martinique und Guadeloupe für die nächsten Jahrhunderte ausgesetzt sein wird.

Diese »anhaltende, allgemeine und hochgefährliche Vergiftung« setzt die Bevölkerung der beiden Inseln nicht nur enormen gesundheitlichen Gefahren aus, sondern Ferdinand versteht die Chlordecon-Vergiftung auch als eine »Enteignung des Bodens«. Chlordecon wurde eingesetzt, um die von den »Béké« – von Sklavenbesitzern abstammende, in Martinique und Guadeloupe geborene Weiße – betriebenen Bananenplantagen vom Rüsselkäfer freizuhalten. Die für den Export aufs Festland bestimmten Bananen seien kaum von der Vergiftung des Bodens betroffen. Vielmehr seien es Wasser und Wurzelgemüse wie Süßkartoffeln, die dem Chlordecon besonders ausgesetzt wurden. Deswegen ist die Fischerei auf Martinique an vielen Stellen, in den Süßwassern sogar gänzlich, verboten.

Neben den schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen für die Menschen werden sie durch die Bodenvergiftung durch das Chlordecon ihrer Lebensgrundlagen beraubt. Obwohl die mit dem Fall beauftragten Untersuchungsrichterinnen von einem »gesundheitlichen Skandal« sprachen, wurde das Verfahren mangels Nachprüfbarkeit der Vorwürfe Anfang des Jahres eingestellt. Philippe Pierre-Charles, Pressesprecher vom 2018 gegründeten Zusammenschluss Lyannaj pou déployé Matinik beschriebt diesen Vorgang in einem Interview mit Mediapart als »kolonialen Akt«. Die Bemerkung der Richterinnen, dass die Einstellung des Verfahrens die Betroffenen nicht daran hindern würde, sich an »andere Instanzen zu wenden«, um eventuelle Schadenersatzzahlungen zu erhalten, klingt unbefriedigend. In den Körpern von mehr als 90 Prozent der Bevölkerung von Guadeloupe und Martinique wurde Chlordecon nachgewiesen, Anrecht auf Schadensersatzzahlungen haben allerdings nur Landwirt*innen und -arbeiter*innen, die über mindestens zehn Jahre Chlordecon bei der Arbeit ausgesetzt waren. Der Tragweite der Vergiftung vor Ort scheint das kaum gerecht zu werden.

Transparenz und Bereitwilligkeit?

Macron selbst hat am Beispiel von Chlordecon betont, die möglichen Schäden von Glyphosat seien kritischer zu betrachten. Auf der Onlineplattform Twitter, jetzt X, schrieb er am 28. September 2018: »Die Art und Weise, wie wir mit Glyphosat umgehen, ist das genaue Gegenteil wie bei Chlordecon: Transparenz und Bereitwilligkeit.« Doch weder das eine noch das andere scheint der Fall. Auch wenn Frankreich eine Verkürzung der Glyphosatlaufzeit fordern wird, ist der Freifahrtschein, den die Regierung nun dem Ministerium für Landwirtschaft gegeben hat, ein klares Signal in eine gegenteilige Richtnug.

Nicht nur wird der Suche nach Alternativen zu Glyphosat in der ökologischen Landwirtschaft Steine in den Weg gelegt. Macrons produktivistische Wende in der Glyphosat-Debatte nimmt spätestens dann eine postkoloniale Dimension an, wenn die Konsequenzen einer Verlängerung der Glyphosatgenehmigung für Ökosysteme – gerade solche, die bereits massiv Giftstoffen ausgesetzt waren –, ausgeblendet werden. Die möglichen Folgen dieser Verlängerung werden besonders Menschen im Globalen Süden treffen, die auf und von Böden leben, die dieser Doppelbelastung ausgesetzt sind. Damit wäre dann aber Macrons politischer Umgang mit der Glyphosat-Debatte weder von Bereitwilligkeit gezeichnet noch von Transparenz.

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