Als Links-Sein Mode war

In »Der Bauch des Wals« sind Essays von George Orwell und Ian MacEwan zu einem lesenswerten Band über politische Literatur zusammengefügt

  • Michael Girke
  • Lesedauer: 6 Min.
George Orwell und Henry Miller
George Orwell und Henry Miller

Paris, 1930er Jahre: Der in der französischen Metropole lebende US-amerikanische Schriftsteller Henry Miller trifft auf seinen durchreisenden englischen Kollegen George Orwell. Dessen Vorhaben, nach Spanien zu gehen, um dort mit der Waffe in der Hand gegen die Faschisten zu kämpfen, nennt Miller lächerlich, sinnlos, völlig verrückt. Orwells leidenschaftlicher Gerechtigkeitssinn hält Miller immerhin davon ab, immer weiter auf den Briten einzuhacken. Für Orwell wiederum stellt sich die Frage, was man mit den Ansichten von einem wie Miller anfangen soll, dessen Literatur sich hauptsächlich um die Vergnügungssucht seiner Protagonist*innen dreht und der sich, was die Politik angeht, vollkommen gleichgültig geriert.

Von dieser Begegnung, besser: diesem Aufeinanderprallen zweier Künstlerhaltungen, denen so gar nichts gemeinsam ist, berichtet Ian MacEwan in einem neuen Buch. Es enthält einen anlässlich der in England regelmäßig veranstalteten »Orwell-Lectures« gehaltenen Vortrag MacEwans und dazu einen sehr langen Essay George Orwells über eben jenen Henry Miller. Im Zentrum des Bandes steht eine Frage, die damals wie heute die Gemüter in Wallung versetzt: Wie sind die Beziehungen zwischen Politik und Literatur?

Mit seinen düsteren Zukunftsromanen »Farm der Tiere« und »1984« erlangte der 1950 verstorbene George Orwell posthume Weltberühmtheit. Seinem Verlag gelang es indes nie, ihn hierzulande als Essayisten und Zeitdiagnostiker, der Orwell vor allem gewesen war, durchzusetzen. Schade für die Leserschaft, sorgt doch die Orwell eigene Verbindung aus messerscharfer Intelligenz und Menschenfreundlichkeit dafür, dass man von noch jeder Exkursion in seine Texte mit einigen das eigene Leben betreffenden Einsichten zurückkehrt.

Seit Anfang der 1930er Jahre, so schildert Orwell in seinem Miller-Essay, war es in den literarischen Kreisen Großbritanniens en vogue, links zu sein. Hauptgrund dafür: die 1929 hereingebrochene weltweite Wirtschaftskrise. Sie hatte vielen Intellektuellen vor Augen geführt, dass der Kapitalismus außer Geldhörigkeit gar nichts aufweise, keine Moral, keinen tieferen Zusammenhalt und keine geistige Substanz. Im Vergleich dazu wäre ihnen der sowjetische Kommunismus wie eine neue starke Kirche erschienen, die zudem über eine beeindruckend große Armee verfüge.

Ob damit auch Orwells eigene Haltung umschrieben ist? Jedenfalls ging sein Engagement so weit, dass er sein Leben aufs Spiel setzte, dass er, wie gesagt, in Spanien gegen die von Hitler und Mussolini unterstützten Faschisten des General Franco kämpfte. Dabei erlebte er, wie intrigant, niederträchtig, skrupellos die im Spanischen Bürgerkrieg agierenden Sowjetkommunisten ihre Ziele verfolgten. Neben anderem mittels »Gesinnungsschnüffelei«, sprich: Sie unterdrückten jegliche Meinungsfreiheit und Diskussion zugunsten der von Stalin ausgegebenen jeweiligen Doktrin. Seine Kriegserlebnisse trafen Orwell tief. Er blieb den Idealen des Sozialismus treu, wurde aber zum erbitterten Kritiker des Sowjetkommunismus und zumal seiner westlichen Anhänger*innen. »Wenn man erlebt«, schrieb Orwell, »dass hochgebildete Menschen Unterdrückungen und Verfolgungen gegenüber gleichgültig bleiben, fragt man sich, was verächtlicher ist, ihr Zynismus oder ihre Kurzsichtigkeit«.

An diesem Punkt kommt Henry Miller ins Spiel. Dessen Widersprüche und Schwächen benennt Orwells Essay in aller Deutlichkeit. Millers Größenwahn etwa, der darin besteht, sich einerseits als unpolitisch zu bezeichnen, andererseits aber zu behaupten, er müsse nur fünf Minuten mit Hitler reden, dann wäre der Krieg zu Ende. Oder dass es sich bei Miller, verglichen mit einem James Joyce, um ein nicht eben großes Geisteslicht handele. Miller ist, so lässt sich aus all dem schließen, eine Zumutung. Ein Autor, der rein gar nichts gegen den Ruin der Welt unternehmen will, eine vollkommene Abkehr vom »Zoon Politicon«, dem politisch denkenden und handelnden Menschen, den die europäische Philosophie seit alters als entscheidende Voraussetzung einer funktionierenden und vor allem gerechten Gemeinschaft anführt.

Doch gerade das, was an Millers Literatur allerorten Anstoß erregt, weswegen sie verketzert wird, sieht Orwell als ihren großen Vorzug an: dass dieser Autor sich nämlich detailfreudig in der Schilderung der ordinären Seiten seiner Romanfiguren ergeht. Millers ordinäre Sprache, so Orwell, ist in Wahrheit diejenige der einfachen Menschen, zu denen die linken Intellektuellen Englands, die außer den von ihnen besuchten Elite-Universitäten nichts erlebt und gesehen hätten, keinerlei Bezug haben.

Im Jahre 1949 rezensierte Orwell die Memoiren von Großbritanniens ehemaligem Premierminister Winston Churchill und staunte über die große Offenheit des Politikers. Beispielsweise gestand Churchill, dass er der Bevölkerung im Jahre 1940 etwas vorgemacht und lieber verschwiegen habe, wie ungeheuer schwach Großbritanniens militärische Stellung nach der Niederlage Frankreichs gegen Nazideutschland gewesen sei. Tatsächlich sah Orwell es seinerzeit ähnlich, glaubte, die Deutschen würden Großbritannien in Bälde besetzen. Just in dieser Zeit, als die Faschisten gleichsam vor seiner Haustür standen und politisches Engagement – wann, wenn nicht jetzt – geraten schien, verfasste Orwell seine Verteidigung des unpolitischen Literaten Henry Miller. All denen, die wissen, wie man die Welt zu sehen hat und die Literatur in den Dienst einer Sache stellen möchten, hielt Orwell entgegen: Für einen Schriftsteller ist es nicht wichtig, im Besitz der Wahrheit zu sein, sondern dass er als selbstständig denkendes und handelndes Individuum agiert.

Der deutsche Dichter Marcel Beyer hat jüngst seine Überlegungen, die er anlässlich des Überfalls Russlands auf die Ukraine angestellt hat, als Buch veröffentlicht. Darin setzt Beyer auch eine Politisierung der literarischen Form ins Werk. Auf derlei will Orwell nicht hinaus. Er vergleicht Henry Millers Haltung mit der im Alten Testament erzählten Geschichte des von einem Wal verschluckten Propheten Jona. Im Innern des Wals, sagt Orwell, ist es nicht schlimm, sondern bequem. Die dicken Speckschichten des Tieres schützen vor dem Draußen, den Plagen und Verantwortlichkeiten der Realität. Wenn Orwell die in dieser Weise symbolisierte »unüberbietbare Verantwortungslosigkeit« Henry Millers verteidigt, verteidigt er die Freiheit der Literatur, jederzeit die zu sein, die sie ist – mit all ihren Facetten.

Unsere Gegenwart vor Augen, unterstützt Ian MacEwan Orwells Argumentation, indem er einige Kapitel aus der Geschichte der freien Meinungsäußerung erzählt. Beispielsweise, dass diese im Europa des Mittelalters und des Absolutismus über mehr als tausend Jahre verboten war. Was in vielen Staaten immer noch (oder wieder) so ist. Dass die technischen Möglichkeiten, Meinungsfreiheit zu unterdrücken, immer umfassender und perfekter werden, dürfte dafür sorgen, dass Orwells Verteidigung einer Literatur wie derjenigen Millers für immer aktuell bleibt.

Freilich ist seit Orwells Tod etwas geschehen, das er noch nicht ahnen konnte. Als Beispiel für Literatur aus dem Innern des Wals führt Ian MacEwan ein Haiku des japanischen Literaturklassikers Bashô an. Ein Haiku, der von dem Geräusch erzählt, das ein ins Wasser hüpfender Frosch hervorruft. Solch eine schöne Naturbeschreibung, meint MacEwan, ist heute unmöglich, weil niemand mehr um die Wahrnehmung herumkommt, dass zahlreiche der seit über 200 Millionen Jahren existierenden Froscharten in unserer Zeit ausgestorben oder vom Aussterben bedroht, viele Gewässer, in denen diese Tiere leben, vergiftet sind. Der Klimawandel hat inzwischen selbst in den abgelegensten Regionen der Erde Konsequenzen und prägt zunehmend den Alltag der Menschen.

Jene Distanz zur Welt, die Orwell als eine der wesentlichen Entstehungsbedingungen guter Literatur erachtet hat, ist heutzutage eine Illusion. Trotzdem würde Orwell sich nach MacEwans Meinung auch jetzt dafür einsetzen, dass Dichter*innen die Freiheit haben müssen, sich für die Beschreibung schöner Natur oder für irgendeinen anderen Spleen zu begeistern. Nur dort nämlich, wo es diese Freiheit gibt, kann auch die Liebe zur Wahrheit gedeihen, die jene Literatur hervorbringt, welche die Menschen und die Gesellschaft besser erkennt als die Menschen und die Gesellschaft sich selbst.

George Orwell/Ian MacEwan: Der Bauch des Wals, Diogenes ,128 S., geb., 22 €.

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