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Brasilien: Freibrief für die Sojalobby?

Im brasilianischen Cerrado führen Kleinbauern und Nichtregierungsorganisationen einen ungleichen Kampf mit den Agrarkonzernen

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 9 Min.
Die Mega-Farm »Estrondo« liegt im Bezirk Formosa do Rio Preto im westlichen Teil des brasilianischen Bundesstaates Bahia.
Die Mega-Farm »Estrondo« liegt im Bezirk Formosa do Rio Preto im westlichen Teil des brasilianischen Bundesstaates Bahia.

Unter der neuen Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT soll Brasiliens Landwirtschaft nachhaltiger werden. Doch im Cerrado ist davon bislang wenig zu sehen. Ein negatives Beispiel ist die Sojamegafarm Estrondo, die ein Abkommen mit einer kleinbäuerlichen Dorfgemeinschaft im Sojagürtel des nordöstlichen Bundesstaates Bahia hat platzen lassen.

Martin Mayr nimmt den Fuß vom Gas und lenkt den schweren Geländewagen vorsichtig von der breiten Piste der Fazenda Estrondo auf den abschüssigen Feldweg. Vorbei an zwei Pfosten, auf denen früher eine Schranke ruhte, und einem eingerissenen Wachhäuschen geht es hinab ins Tal des Rio Preto. Von breiten Erosionsfurchen ist der Weg gezeichnet, der durch die von Gräsern, Unterholz und knorrigen, meist niedrigen Bäumen geprägte Savanne des Cerrado führt.

Plötzlich taucht ein großes Schild auf, das darauf hinweist, dass nun das Gebiet der Assoziation der Gemeinden Cacimbinha und Gatos beginnt. Darauf ist auch eine Karte zu sehen, auf der genau markiert ist, wo sich das traditionelle Siedlungsgebiet der Bewohner der kleinen Gemeinden im Flusstal des Rio Preto befindet. »Sieben kleine Siedlungen mit rund 120 Familien gibt es hier und die Tafeln haben wir gemeinsam mit den Geraizeiros angefertigt und aufgestellt. So weisen wir auf deren Landanspruch hin«, erklärt Mayr, ein großgewachsener, hagerer Mann mit blauen Augen und silberweißem Haarschopf unter dem braunen Schlapphut. Geraizeiros heißen die viehtreibenden Kleinbauern, die in Brasilien die Savanne des Cerrado nutzen und ihre Rinder von einem Weideplatz zum nächsten bringen.

Monokulturen für den Export

Das einzigartige Ökosystem im Herzen Brasiliens, Heimat von Jaguaren, Ameisenbären, Tapiren und etlichen endemischen Pflanzenarten, ist dank riesiger unterirdischer Süßwasserspeicher Ursprung vieler Flüsse und erstreckt sich über fast zwei Millionen Quadratkilometer bis nach Paraguay hinein. Neben der Amazonas-Region ist der Cerrado das zweite wichtige Ökosystem des Landes – deutlich weniger bekannt und mindestens genauso gefährdet wie der Regenwald im Norden Brasiliens. »Rund die Hälfte des Cerrado hat die Agrarindustrie mit riesigen Soja-, Baumwoll- und Maismonokulturen überzogen. Es wird agroindustriell für den Weltmarkt produziert. Die Exporte gehen vor allem in die EU und nach China«, erklärt Martin Mayr.

Der aus Österreich stammende Entwicklungshelfer ist Diakon in Barreiras, einer Agrardrehscheibe mit 160 000 Einwohnern im Nordwesten des Bundestaats Bahia, und leitet die kleine Entwicklungshilfeorganisation 10 Envolvimento. Die engagiert sich für den Erhalt des Ökosystems Cerrado und unterstützt kleine Gemeinden wie Cacimbinha und Gatos, die ihre traditionelle Lebensweise gegen Megafarmen wie Estrondo verteidigen.

Landgrabbing durch Großunternehmen

»Agronegócio Condomínio Cachoeira do Estrondo« heißt das Agrarunternehmen mit Sitz in der rund vier Fahrtstunden entfernten Kleinstadt Formosa do Rio Preto. Von hier aus werden Agrarmultis wie Cargill, Archer Daniels Midland (AMD), Cofco und Bunge mit Sojabohnen, Mais und auch Baumwolle en gros beliefert. Produziert wird rund um das Tal des Rio Preto mit den sieben kleinen Siedlungen, die von einem Gürtel aus derzeit 14 Großfarmen eingeschlossen sind.

Zusammen bilden diese die Megafarm Estrondo. Sie setzt auf Hightech, schweres Gerät, chemische Düngemittel und Pestizide, um so viel wie möglich auf den sandigen, nährstoffarmen Böden des Cerrado zu produzieren. »Hier geht es um schnelle Profite, nicht um eine langfristige Perspektive«, moniert Mayr. Bereits seit 2002 wirkt er als Diakon und Entwicklungshelfer in Barreiras. Den Kontakt zu den Kleinbauern aus Cacimbinha hat er seit 2005 aufgebaut.

Damals schwelte der Konflikt mit dem Agrarkonzern bereits mehrere Jahre. »Die Megafarm Estrondo hatte begehrliche Blicke auf das Land dieser Kleinbauern geworfen, versuchte sie zu vertreiben«, erläutert Mayr und steuert den Wagen in das kleine Dorf Cacimbinha. Er stoppt ihn vor einer kleinen Häuserzeile. Rund 20 Wohngebäude, ein paar Schuppen, hier und da eine kleine Scheune und weiter unten ein Fußballplatz – viel mehr hat Cacimbinha nicht zu bieten.

Kampf um das eigene Land

Mayr begrüßt die Mitglieder der Gemeinde, die ihn und sein aus dem Agraringenieur Abner Mares Costa und der Umweltingenieurin Amanda Santos Silva bestehendes Team bereits erwartet haben – unter ihnen auch der rüstige Antônio Batista Gomes. Der 83-Jährige mit dem kecken Strohhut, dem schmalen Schnurrbart und der einfachen eckigen Metallbrille ist ehemaliger Gemeindesprecher und kennt den Konflikt von Beginn an.

»Sie wollten uns vertreiben, sich das Land unter den Nagel reißen und haben uns mit ihren Pistoleros eingeschüchtert«, erinnert er sich und fährt fort: »Mehrere Männer wurden angeschossen, zusammengeschlagen und wir wussten zwischenzeitlich nicht, was wir machen sollen. Das änderte sich erst mit dem Auftauchen von Organisationen wie 10 Envolvimento«, sagt Batista Gomes und tätschelt dem deutlich größeren Mayr freundschaftlich den Rücken.

Beide hoffen, dass dank der Arbeit der Ombudsstelle für Grundrechte bei der Staatsanwaltschaft in Salvador da Bahia der Konflikt noch in diesem Jahr beigelegt wird. »Eigentlich ist alles ausgehandelt. Doch in letzter Sekunde ist das Unternehmen von dem Abkommen, das uns 77 000 Hektar Land zubilligt und im Juli dieses Jahres unterschrieben werden sollte, wieder abgerückt«, erklärt Batista Gomes.

»Die Landtitel für 40 000 Hektar sollten wir für die kollektive Nutzung als Weide- und Agrarland erhalten, weitere 37 000 Hektar sollten als Schutzgebiet ausgewiesen werden«, ergänzt die 44-jährige Isaltina Guedes da Silva Gomes. Die quirlige Frau ist die Gemeindekrankenschwester und gehört zu der Gruppe von Frauen, die derzeit die Gemeinde nach außen vertreten.

Sie hofft, dass das Leben in den sieben Siedlungen am Rio Preto wieder bald so wird wie früher. »Vor dem Sojaboom war es hier ruhig, die Menschen kannten keine Angst«, erinnert sich die Frau, die in einer der benachbarten Siedlungen aufgewachsen ist und ein Solarpanel auf dem Dach ihres Hauses stehen hat, das für etwas Strom sorgt – und für den Zugang zum Internet.

Bei der Installation hat Mayr mit seinem Team von 10 Envolvimento geholfen und auch beim Wassermanagement und der Anbauberatung sind Umweltingenieurin Amanda Santos Silva und ihr Kollege Abner Mares Costa regelmäßig präsent. »Einmal pro Woche sind wir vor Ort«, sagt Mares Costa, der die drei bis vier Stunden langen Fahrten von Barreras nach Cacimbinha auch nutzt, um zu beobachten, was sich auf der Megafarm Estrondo tut.

Sie umfasst die gigantische Fläche von 295 334 Hektar Land, die komplett mit Sojabohnen, Mais und Baumwolle bebaut sind. »Brasiliens Waldschutzgesetz sieht allerdings vor, dass im Cerrado 20 Prozent der Flächen als Naturschutzgebiet im Originalzustand erhalten werden müssen. Genau das hat Estrondo nicht getan. Deshalb sind die für den Sojaanbau kaum geeigneten Flächen der Kleinbauern so attraktiv. Denn diese sollen dem Unternehmen als Ausgleichsflächen, also als Naturschutzgebiet dienen«, erklärt Abner Mares Costa. Seine beiden Kollegen nicken zustimmend.

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​​Neue Politik erreicht Cerrado kaum

Der politische Umgang mit der Landfrage, so die Hoffnung vieler Kleinbauern im Cerrado, werde sich unter der Regierung von Präsident Lula da Silva ändern, damit konsequenter geprüft und Verstöße gegen Gesetze geahndet werden. In der Amazonas-Region ist das tatsächlich der Fall, im international kaum beachteten Cerrado jedoch weitaus weniger.

Bestes Beispiel dafür ist der Umgang der Justiz mit der Megafarm Estrondo nach deren Rückzug aus dem ausgehandelten Abkommen mit der Assoziation der Gemeinden Cacimbinha und Gatos. »Obwohl Estrondo seine Änderungswünsche am ausgehandelten Abkommen bis heute nicht präzisiert hat, ist die Staatsanwaltschaft nicht aktiv geworden. Sie hat keinen Druck aufgebaut, hat bestehende Strafanträge gegen das Unternehmen nicht aktiviert und ermittelt. Das ist enttäuschend«, so der 61-jährige Diakon aus Barreiras.

Anfang Dezember wird Mayr mit Anwälten und seinem Team in Cacimbinha zu Besuch sein, um über das weitere Vorgehen in dem Fall und die Optionen der Kleinbauern zu diskutieren. Diese sind begrenzt und der Optimismus des Diakons hält sich in Grenzen. »Fakt ist, dass wir im Bundesstaat Bahia schon vor dem Regierungswechsel von Jair Bolsonaro zu Lula von der Arbeiterpartei regiert wurden. Sie tut sich schwer, gegen die Agrarlobby aktiv zu werden – das Beispiel Estrondo spricht da Bände«, meint Mayr und verweist auch auf den Besuch des Präsidenten auf der regionalen Agrarmesse vor einigen Monaten.

Auf ein wichtiges Alarmsignal verweist Umweltingenieurin Amanda Santos Silva. »Die lockeren, nährstoffarmen Böden werden durch den intensiven Anbau ausgedörrt. Wenn gleichzeitig der Niederschlag sinkt, graben sich Unternehmen wie Estrondo mittelfristig selbst das Wasser ab«, erläutert sie. Wissenschaftliche Prognosen warnen bereits, dass sich in 30 Jahren die Produktion im Cerrado nicht mehr rentieren wird.

Genau deshalb engagiert sich das Team von 10 Envolvimento für kleine Dorfgemeinschaften wie Cacimbinha und Gatos. Sie könnten Vorbildwirkung entfalten, sollte es ihnen gelingen, die Besitzer einer Megafarm wie Estrondo in die Schranken zu weisen und sie zur Rückgabe von illegal einverleibten Landflächen zu zwingen. Doch das ist derzeit mehr als ungewiss.

Brasilien und die Sojabohnen

Der 83 Jahre alte ehemalige Gemeindesprecher von Cacimbinha Antōnio Baptista ist mit dem Landrechtskonflikt gut vertraut.
Der 83 Jahre alte ehemalige Gemeindesprecher von Cacimbinha Antōnio Baptista ist mit dem Landrechtskonflikt gut vertraut.

Im Dezember 2022 prognostizierte das brasilianische Landwirtschaftsamt CONAB für 2023 eine Rekordernte von 153,47 Millionen Tonnen Sojabohnen. Hauptgrund dafür ist der erneute Anstieg der Anbaufläche um 1,8 Millionen Hektar auf nunmehr 43,3 Millionen Hektar. Binnen zehn Jahren wurde die Sojaanbaufläche um 15,6 Millionen Hektar ausgeweitet – eine gigantische Größe, die vor allem den Naturraum Cerrado schrumpfen ließ. Er steht – anders als die Amazonas-Region Brasiliens – nicht unter einem Sojamoratorium, in dem sich die großen Agrarkonzerne verpflichten, kein Soja auf Kosten des Regenwaldes anzukaufen.

Das Condomínio Cachoeira do Estrondo ist ein Big Player in der Sojabranche. Das zu Beginn der 90er Jahre vom brasilianischen Geschäftsmann Ronald Guimarães Levinsohn gegründete Unternehmen wird zurzeit von drei Gesellschaften verwaltet: Delfin Crédito Imobiliário, Colina Paulista und Companhia de Melhoramento do Oeste da Bahia (CMOB). In die drei Firmen ist der Nachlass des 2020 verstorbenen Levinsohn eingegangen.

Die verschachtelten Besitzstrukturen folgen einer Logik: Sie sollen verschleiern, wem die bis zu 440 000 Hektar Anbaufläche der Finca Estrondo konkret gehören. Das macht Sinn, denn laut einem Gutachten des Nationalen Instituts für Kolonisierung und Agrarreform (INCRA) ist die Farm das Ergebnis der illegalen Aneignung von öffentlichem Land.

Trotzdem wird an den dubiosen Besitzverhältnissen nicht gerüttelt. Das hat seine Ursache in einer schwachen Justiz und im politischen und ökonomischen Einfluss, den die Agrarlobby in Brasilien besitzt. Deren Geschäfte boomen und die Besitzer der Fazenda Estrondo profitieren davon. Das Gros ihrer Sojasilos steht in der Kleinstadt Formosa do Rio Preto und von dort aus wird direkt an die den Weltmarkt dominierenden Agrarkonzerne Cargill, Archer Daniels Midland (AMD), Cofco oder Bunge geliefert. Das entspricht dem agroindustriellen Modell, das in Brasilien dominiert.

Immerhin gibt es für dessen Protagonisten einen kleinen Dämpfer: Die Umwelt- und Klimaorganisation Client Earth hat erfolgreich eine Beschwerde gegen den US-Agrarriesen Cargill eingereicht. Es ist das erste Mal, dass Cargill sich in den USA wegen seiner Rolle bei der Entwaldung im Amazonas-Regenwald und im Cerrado juristisch verantworten muss. Vorgeworfen werden Cargill Verstöße gegen gesetzliche Sorgfaltspflichten zum Erkennen und Vermeiden von Entwaldung sowie Menschenrechtsverletzungen.

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