Debütroman von Charlotte Gneuß: Nur ein wenig modetrendig

Nicht in die Tiefe schauen: »Gittersee«, der viel diskutierte Debütroman von Charlotte Gneuß über die DDR der 70er Jahre

  • Michael Bartsch
  • Lesedauer: 5 Min.

Wegen der hohen Zahl von Voranmeldungen ist die Buchlesung von Charlotte Gneuß Mitte November in eine größere Stadtteilbibliothek im Dresdner Süden verlegt worden. Nur etwa zweieinhalb Kilometer vom titelgebenden Stadtteil Gittersee entfernt, oben auf dem Berg Richtung Freital gelegen.

Die Autorin, eine schlanke Frau von 30 Jahren, möchte, dass das Saallicht gelöscht wird. In Verbindung mit ihrer beinahe flüsternden, mädchenhafen Stimme entsteht Weihnachtsgeschichtenatmosphäre, das Bilderbuchregal steht auch noch gleich daneben.

Unwillkürlich imaginiert man in der Lesenden Karin, die sechzehnjährige Hauptfigur von »Gittersee«. Denn im Roman will ein solches Bild auf 238 Seiten nicht richtig entstehen. Vielleicht hilft das Titelfoto, das eine Jugendliche mit einem Kind zeigt, vielleicht Karins kleine Schwester aus dem Roman, um die sie sich kümmert?

»Gittersee« bekam den Aspekte- und den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Es gab viel Presse. Meist wurde die Frage aufgeworfen, was ist an diesem Roman historisch nicht korrekt? Der etablierte Dresdener Schriftsteller Ingo Schulze, der wie Gneuß im S. Fischer-Verlag veröffentlicht, schwärzte die Nachwuchshoffnung an, stieß sich bei der westdeutsch Sozialisierten mit sächsischen Studienerfahrungen an sachlichen Fehlern.

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Wer danach fahndet, wird auch fündig. Selbstredend fuhr und fährt eine »Schwalbe« damals wie heute keine 180 Sachen, durfte man 1976 schon nicht mehr auf den Nadelfelsen Barbarine in der Sächsischen Schweiz klettern, und der Steinkohlebergbau bei Freital, in dem Karins plötzlich verschwundener Freund Paul 545 Meter unter der Erde geschürft haben soll, endete schon 1968.

Sie sei es müde, stets darauf angesprochen zu werden, wurde Charlotte Gneuß bei der Lesung ein einziges Mal unwirsch. Da hat sie recht: Auch kritische Leser sollten sich daran jetzt nicht mehr aufreiben, sondern nach den literarischen Qualitäten bei der eindeutig historischen Intention des Romans fragen. Auch die neueste Geschichte ist mittlerweile zur Benutzung freigegeben, fantasievoller Umgang mit ihr eingeschlossen.

Eine Selbstdarstellerin saß in Dresden jedenfalls nicht am Lesetischchen, keine Westdeutsche, die mit Sekundärwissen den Zeitgenossen und Nichtgenossen die DDR erklären wollte, wie sich das Besserwessitum leider bis heute in der zweiten Generation fortsetzt. »Ich komme von der Sprache«, erklärt sich die sensible, nur ein wenig modetrendig wirkende junge Frau. »Und ich wollte keinen bildungsbürgerlichen Dresden-Roman schreiben«, spielt sie – na auf wen wohl – an? Auf jenen gefallenen Shootingstar Uwe Tellkamp, der sich immer mehr in seine Türme am Weißen Hirsch zurückzieht.

»Gittersee« beschreibt ansatzweise und statisch einen Ausschnitt des Jahres 1976. Diese Jahreszahl erfährt man nur aus dem Klappentext, kann sie bestenfalls aus einer erst auf Seite 165 angeführten, bis zum Jahr 1975 reichenden Statistik zum Energiebedarf rekonstruieren. Nichts ist zu spüren von der sich in der damals noch relativ jungen Honecker-Ära schon abzeichnenden Entwicklungsdynamik. Das erspart der Autorin, in die Erdspalten hinabzusteigen, die sich zunehmend in der DDR auftaten. Man ahnt nicht einmal, warum es Paul im Osten nicht mehr aushielt.

Eine weitere Enttäuschung ist stilistischer Art. Das Dauer-Stakkato, der Telegrammstil ermüdet zunächst und führt dazu, dass man wie bei einem Video die Wiedergabe auf achtfache Geschwindigkeit stellt. Allzu detailverliebter Schilderungsballast von Nebensächlichkeiten trägt dazu bei. Unzufrieden stimmt, dass dieses ständige Umherirren des literarischen Auges weder die Personen noch die Milieus schärfer, plastischer oder nachvollziehbarer zeichnet. Charakteristische Stimmungen, Lebensgefühle, Abgründe erkennt weder der Zeitgenosse wieder noch dürfte es die Vorstellungskraft heutiger jüngerer Leser befördern. Über die Zitate von Phrasen und Formeln hinaus, die man in jedem Archiv und jedem DDR-Museum nachlesen kann, geht es kaum in die Tiefe.

Und das, obschon mit der Krimi-Struktur des Romans eigentlich Spannung aufgebaut wird. Überfallartig wird bereits auf der ersten Seite ein Mord an einem Motorradfahrer präsentiert – mittels eines wie eine Guillotine wirkenden gespannten Drahtseils. Der Schluss schließt den Kreis: Karin und Freund Rühle bringen offenbar den Stasi-Führungsoffizier Wickwalz auf diese Weise um. Die Autorin will von einem Fall in Radebeul bei Dresden inspiriert sein, aber natürlich lässt Juli Zehs »Schilf« mit der gleichen Methode grüßen.

Die Suche der Stasi nach dem plötzlich verschwundenen, von Karin geliebten Paul durchzieht den Roman. Alles deutet auf »Republikflucht«. Karin, von Paul alleingelassen und weder vom trinksüchtigen Vater noch von der unerfüllten Mutter gestützt, unterschreibt bei Wickwalz eine IM-Verpflichtungserklärung. Der Führungsoffizier ist die sympathischste Figur im Roman, empathisch, gebildet, aber linientreu – eine sympathische Ketzerei gegenüber dem Master Narrative der siegreichen Historiker über die furchtbare Diktatur. Es waren nicht alle schlecht! Zugrunde liegt dieser Arabeske die Geschichte der ehemaligen PDS-Spitzenpolitikerin Angela Marquardt, die ebenfalls mit 15 Jahren als Stasi-Zuträgerin angeworben wurde.

Diese Verstrickung, ja Abhängigkeit von Wickwalz führt Karin in eine aussichtslose Lage, je mehr sich die den Umständen nach völlig ungeklärte Flucht von Paul nach Düsseldorf bestätigt. Im letzten Teil nimmt der Roman denn auch Fahrt auf und gewinnt an Dichte. Der angedeutete Drahtseilmord an dem in der Dunkelheit auf dem Motorrad heranbrausenden Wickwalz scheint Karins und Freund Rühles Dilemma zu lösen.

Aber auch zuvor bleibt man gelegentlich an poetischen Passagen hängen, wo man sogar auf langsame Wiedergabe schaltet. Der lakonische Ton indessen bleibt. Der Ort sei austauschbar, erklärt Charlotte Gneuß, ihr Titelvorschlag lautete »Oder Gittersee«. Nach den Berichten ihrer Verwandten, auf die sich die Recherchen vor allem stützen, habe sie alles als »so krass« empfunden, berichtet die Autorin. Das werden die erlebnisgefüllten, intensiv lebenden, in die DDR-Umgebung Hineinwachsenden von damals bei diesem relativ zahmen Buch einer Nachgeborenen vermutlich anders sehen.

Charlotte Gneuß: Gittersee.
S.Fischer, 240 S., geb., 22 €.

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