Spielsucht bei Sportwetten: Risikogruppe Fußballprofi

Wettbesessene Kicker: Ein Spieler pro Startelf hat glücksspielbezogene Probleme

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 7 Min.
Erwischt: Die beiden italienischen Nationalspieler Alessandro Florenzi und Sandro Tonali
Erwischt: Die beiden italienischen Nationalspieler Alessandro Florenzi und Sandro Tonali

Vergesst nicht Aldo Bet», mahnten vergangene Woche die Ultras des AC Mailand und hielten ein Transparent mit dieser Aufschrift im Stadion San Siro hoch. Was auf den ersten Blick anmutete wie ein Aufruf zum Einsatz von Sportwetten beim Anbieter Aldo Bet, entpuppte sich als postmortale Würdigung eines einst eisenharten Vorstoppers mit diesem Namen, der im November im Alter von 74 Jahren starb. Aldo Bet wurde 1979 mit dem AC Mailand Meister, spielte damals an der Seite von Größen wie Franco Baresi und Fabio Capello.

Über sein Wettverhalten ist nichts Genaues bekannt, selbst wenn im Zuge des Manipulationsskandals ausgerechnet in jenem Meisterjahr des AC Mailand die Ermittler auch an seine Pforte klopften. «Sie kamen aber zum Falschen», betonte er vor ein paar Jahren in einem Interview mit der «Gazzetta dello Sport».

Zu mehreren Richtigen kamen in diesem Jahr Ermittler in Sachen illegales Glücksspiel. Zwei Verdächtige agierten auch in der rotschwarzen Spielkleidung des Mailänder Klubs. Sandro Tonali, wegen Wettens zu einer Sperre von zehn Monaten verdonnert, wechselte im Sommer in die Premier League zu Newcastle United und ist dort erst einmal nicht spielberechtigt. Alessandro Florenzi hingegen ist noch beim AC Mailand. Auch er wurde von den Ermittlern vernommen. Zurzeit darf er aber spielen. Er wurde just an dem Tag, an dem die Fans des alten Recken Aldo Bet gedachten, unter großem Beifall eingewechselt.

Im Unterschied zum gesperrten Tonali gab er nur zu, Poker und Blackjack auf nicht lizenzierten Plattformen gespielt zu haben. Das zieht womöglich eine Geldstrafe bei einem Prozess der Strafjustiz nach sich. Die Sportjustiz wird aber erst dann aktiv, wenn jemand auf den eigenen Sport, erst recht auf die eigene Mannschaft, gesetzt hat. Florenzi bestreitet das, ebenso wie der in England tätige italienische Nationalspieler Nicolò Zaniolo.

Dass man sich derzeit wieder mit Sportwetten beschäftigt, und mit Spielern, die zocken, hat mit einer Ermittlung der Turiner Antimafia-Staatsanwaltschaft zu tun. «Bei unseren Ermittlungen gingen wir ursprünglich von Drogendelikten und Verdacht auf Geldwäsche aus. Dabei stießen wir auf die illegalen Plattformen. Kunden dieser Plattformen waren dann auch die Fußballprofis», erzählte Enrica Gabetta, Koordinatorin des Antimafia-Pools, gegenüber «nd». Die Staatsanwälte trafen auf Hunderte von Klienten und Umsätze in Millionenhöhe. Insgesamt vier illegal wettende Fußballprofis sind bisher bekannt, neben Zanioli, Tonali und Florenzi auch noch Nicolò Fagioli. Alle kamen bereits in der italienischen Nationalmannschaft zum Einsatz, Fagioli ist bei Serienmeister Juventus Turin unter Vertrag.

Begonnen haben sie mit der Zockerei ausgerechnet in der U21-Auswahl Italiens. Das jedenfalls gab Fagioli vor den Ermittlern zu. Im Trainingslager der Nachwuchsauswahl tauschte er sich demnach mit Kumpel Tonali über die besten Plattformen zum Zocken aus. Der damalige Trainerstab will nichts davon mitbekommen haben. «In meiner Anwesenheit haben sich die Jungs immer korrekt und fleißig verhalten», sagte der damalige Coach Paolo Nicolato im Gespräch mit «nd». «Wir Trainer verbringen allerdings auch nur verhältnismäßig wenig Zeit mit den Sportlern. Was in der privaten Sphäre geschieht, entzieht sich unserer Kenntnis», so formuliert er. Der Trainer hält vor allem die viele freie Zeit der Profisportler, die sie mangels anderer Interessen mit dem Wetten auf dem Smartphone totschlagen, für eine Ursache des Wettfiebers.

Für Spielsuchtexperten stellen Leistungssportler weltweit tatsächlich eine besonders anfällige Risikogruppe dar. «Mitglieder von Sportvereinen haben ein natürliches Sportinteresse, und da sind gerade die Sportwetten quasi das Thema Nummer eins. Wir wissen bereits, dass Mitglieder von Sportvereinen viel häufiger Sportwetten platzieren als andere Personen aus der allgemeinen Bevölkerung. Es deutet sich auch an, dass Umgebungsfaktoren wichtige Treiber sind. Wenn im Freundeskreis oder im eigenen Sportverein Sportwetten platziert werden, dann habe ich als junger Mensch einen leichteren Zugang, weil das die soziale Norm ist», sagt Tobias Hayer. Er ist Psychologe, leitet die Arbeitseinheit Glücksspielforschung an der Universität Bremen und arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten zum Forschungsthema Glücksspielsucht.

Sind in der Normalbevölkerung etwa ein bis drei Prozent der Personen gefährdet, der Spielsucht zu verfallen, so beziffert Hayer dies bei Sportvereinen auf zehn Prozent.

Das deckt sich mit Erfahrungen in Italien: Paolo Jarre, derzeit Therapeut von Juventus-Profi Fagioli, hält den Anteil von etwa zehn Prozent Glücksspiel- und Wettsüchtigen unter den professionellen Sportlern auch in Italien für wahrscheinlich. Ein verschärfendes Element für Spielsucht gerade unter den Jüngeren ist die rasante Entwicklung des Markts der Sportwetten. «Ich nenne das Wetten vom Zentimeter null, vergleichbar dem nachhaltigen Konsum vom Kilometer null. Nur dass man hier eben mit dem Smartphone ganz unmittelbar auf eine Wettplattform gelangen und live während des Spiels nicht nur auf das nächste Tor, sondern auch auf Ecken, Einwechslungen und gelbe Karten setzen kann», erklärt Therapeut Jarre.

Auch der Hang zum Extrakick macht aktive Sportler zu einer besonderen Risikogruppe für Spielsucht. «Was bedeutet das fürs Gehirn – Stichwort Glückshormone –, wenn ein Fußballprofi in der 93. Minute das entscheidende Tor schießt und im Stadion und am Fernseher bejubelt wird? Wenn das als Kickmoment ausbleibt, ist es nachvollziehbar, dass diese emotionsregulierenden und stimmungsaufhellenden Elemente woanders gesucht werden, zum Beispiel im Glücksspiel», meint Jarres Bremer Kollege Hayer.

Ein großes Problem dabei ist, dass Spielsucht das Wahmehmungsvermögen der Betroffenen beeinflusst. «Glücksspielsüchtige erliegen dem Irrglauben, über irgendwelche Verhaltensweisen, Strategien und Systeme langfristig auf der finanziell positiven Seite zu sein. Das fördert ein Weiterspielen», warnt Hayer. Erkennen kann man Glücksspielsucht von außen aber kaum. «Das sichtbarste Zeichen ist das Geld, das systematisch verschwindet», meint Jarre ganz trocken. Bei Fußballprofis, die mit Millionenverträgen ausgestattet sind, kann es aber dauern, bis das Umfeld auf abfließende Geldströme aufmerksam wird.

Die drakonischen Strafen, die die italienische Sportjustiz für wettende Sportler vorsieht, haben vor allem darin ihren Grund, dass Athleten mit Spielschulden eher geneigt sind, bei Spielmanipulationen für sogenannte sichere Wetten mitzuwirken. Das ist die klassische Dynamik der letzten Wettskandale. Zumindest im Falle der vier italienischen Fußball-Nationalspieler sei dies aber nicht der Fall, betont Fagiolis Anwalt Luca Ferrari gegenüber «nd». Tatsächlich gibt es bisher keine Hinweise, dass einer der Spieler auf eine Niederlage seines eigenen Teams gesetzt hatte. Das aber sind die üblichen Muster bei Wettbetrug.

Therapieansätze bei Spielsucht liegen vor allem darin, den Süchtigen zu anderen Anreizen zu verhelfen. «Wichtig sind Freizeitaktivitäten außerhalb des Profisports, die einen mit Leidenschaft erfüllen», umreißt Fagioli-Therapeut Jarre die Strategie. Er geht von einer monatelangen Behandlung aus.

Bei einem Anteil von zehn Prozent Suchtgefährdeten im Profisport eröffnet sich potenziell auch ein beträchtliches Geschäftsfeld. Spezielle Suchtkliniken für Profisportler gibt es bislang aber nur wenige. Der frühere englische Fußballprofi Tony Adams eröffnete eine solche Einrichtung nahe London. Er selbst hatte Alkoholprobleme. «Inzwischen haben wir weitaus mehr Spielsüchtige als Alkoholsüchtige unter unseren Patienten», beobachtete er.

Wichtig ist neben Therapieangeboten auch die Vorbeugung. Wettmarktanalyst Sportradar entwickelt gerade ein «Athlete Wellbeing Program». «Athleten, die daran teilnehmen, werden über die möglichen Auswirkungen von Sportwetten auf ihre psychische Gesundheit aufgeklärt. Gleichzeitig soll ein Bewusstsein für die Anzeichen eines problematischen Wettverhaltens vermittelt werden», erläutert Sportradar-Manager Andreas Krannich den Ansatz.

In Italien soll Juve-Profi Fagioli an Aufklärungsseminaren für jüngere Sportler mitwirken. «Die Spieler hören einem Gleichaltrigen, der von eigenen Erfahrungen und traumatischen Erlebnissen berichtet, ganz anders zu als Erwachsenen, die pauschal vor Risiken warnen», ist Anwalt Ferrari überzeugt. Sowohl er als auch die Psychologen Hayer und Jarre sowie Nachwuchscoach Nicolato betonen, dass Klubs und Verbände deutlich mehr gegen Spielsucht unternehmen müssten.

Ungelöst ist die Frage, wie künftig mit der Werbung von Wettanbietern im Sportumfeld umzugehen ist. Der Profisport ist scharf aufs Geld. Umberto Cairo, Besitzer des Erstligaklubs FC Turin und auch des Sportmedienimperiums rings um die «Gazzetta dello Sport» und den Ausrichter des Giro d’Italia, forderte zuletzt mehr Einnahmen für den Sport aus dem Wettgeschäft.

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