Ukraine-Krieg: Ein Lungenflügel reicht zum Kämpfen

Die Ukraine plant eine deutliche Verschärfung der Mobilisierungsvorschriften

  • Bernhard Clasen
  • Lesedauer: 4 Min.
Werbung für die Sturmtruppen: Die ukainische Armee hat zunehmend Probleme, Männer für den verlustreichen Abwehrkampf gegen Russland zu gewinnen.
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Zielbewusst geht ein junger Mann, bärtig, schwarze Haare, etwa 30 Jahre alt, auf den U-Bahn-Eingang zu. Plötzlich stockt er, wendet blitzschnell nach rechts und ist wenige Sekunden später in einem Computergeschäft verschwunden. Der Grund dieses plötzlichen Interesses für PC-Hardware ist für den Beobachter wenige Sekunden später erkennbar. Aus der zur U-Bahn führenden Unterführung waren zwei Männer der Wehrbehörde die Treppen nach oben gestiegen. Der junge Mann wäre ihnen direkt in die Hände gelaufen

Der Vorfall hatte sich vor zwei Monaten in Charkiw ereignet. Der Mann war schließlich eine Stunde später unbehelligt in seiner Wohnung angekommen. Doch nun wird es für Männer ab 25 Jahren zunehmend schwerer, sich in ukrainischen Städten zu bewegen, ohne nicht von den meist schwarz gekleideten Vertretern der Wehrbehörde angesprochen zu werden. Immer dichter wird deren Netz von Checkpoints. Und nicht selten enden die Kontrollen mit einer Unterschrift unter eine »Powistka«. Diese Vorladung verpflichtet die betreffende Person, zeitnah bei der Wehrbehörde zu erscheinen. Und dort warten auf ihn entweder ein Abgleichen der persönlichen Daten, eine Musterung oder eine Mobilisierung zur Armee. 

Armee braucht 500 000 zusätzliche Soldaten

Vorausgegangen war der verschärften Jagd auf wehrfähige Männer die Pressekonferenz von Präsident Wolodymyr Selenskyj, der am 19. Dezember 2023 erklärt hatte, dass das Militär weitere 450 000 bis 500 000 Soldaten brauche. Wenige Tage danach brachte die ukrainische Regierung einen Gesetzentwurf ein, der die Vorschriften für Mobilisierung, militärische Erfassung und Kriegsdienst verschärft. Tritt dieser Gesetzentwurf in Kraft, sollen auch Personen mit einer Behinderung dritter Klasse eingezogen werden dürfen. Dann dürfen also auch Menschen mit nur einer Niere, einenem Lungenflügel, einer gelähmten Hand, einem Auge oder auch einem Herzschrittmacher eingezogen werden.

Lag bisher die Altersgrenze bei der Mobilisierung für den Krieg bei 27 Jahren, soll diese nun auf 25 Jahre herabgesetzt werden. Der Gesetzentwurf verpflichtet auch alle Personen wehrpflichtigen Alters, eine funktionierende E-Mail Adresse zu besitzen. Vorladungen an diese Adresse gelten als zugestellt. Auch dann, wenn sie im Spam-Ordner gelandet sind.

Verweigerer sollen hart bestraft werden

Auch Frauen mit einer militärischen oder medizinischen Ausbildung werden laut Gesetzentwurf von den Militärbehörden erfasst. Wer die Militärgesetzgebung verletzt, muss mit empfindlichen Strafen rechnen. Diesen Personen werden Operationen mit mobilem Eigentum und Immobilien verboten, sie erhalten keine Kredite, keine staatlichen Leistungen. Außerdem drohen ihnen Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren. Ukrainische Botschaften und Konsulate dürfen dann nur noch mit Personen zusammenarbeiten, die gültige Wehrpapiere haben. Die meisten der derzeit (Stand November) 252 700 in Deutschland lebenden ukrainischen Männer haben solche Papiere indes nicht. 

Kritik an dem Gesetzesvorhaben kommt vom Menschenrechtsbeauftragten des ukrainischen Parlamentes, Dmytro Ljubinez. »Meiner Meinung nach enthält dieser Gesetzentwurf Bestimmungen, die der Verfassung widersprechen«. Insbesondere stört sich Lubinez am Verbot von Immobilientransaktionen. »Wenn jemand zum Beispiel offiziell ein Haus besitzt, können wir ihm doch nicht verbieten, dieses Haus zu verkaufen oder ein anderes zu kaufen. Das würde direkt gegen die Verfassung verstoßen.«  

Kritik von Menschenrechtlern und Wirtschaft

Der Wirtschaftsexperte Oleksij Kuschtsch sieht in dem Gesetzentwurf eine Gefahr für die ukrainische Wirtschaft. Die Annahme dieses Gesetzentwurfe würde dazu führen, dass viele ihre Konten plünderten, viele nur noch schwarz arbeiteten, ein Großteil der Gesellschaft jeglichen Kontakt mit staatlichen Behörden meiden werde, so Kuschtsch. 

Gegenüber »nd« erklärte Andrij, ein 45-jähriger Übersetzer, der vor wenigen Monaten von Kiew nach Deutschland geflohen ist: »Ich habe in der Ukraine alles verkauft, um mir ein Attest zu kaufen, das mir eine Untauglichkeit für den Kriegsdienst bescheinigt.« Er werde sich von den neuen Vorschriften nicht beeindrucken lassen. Inzwischen habe er ein deutsches Bankkonto und eine deutsche Kreditkarte. »Und wenn das ukrainische Konsulat in Düsseldorf mir meinen Pass nicht verlängern wird, dann eben nicht.« Freiwillig zurückkehren werde er jedenfalls nicht.

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