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  • 100. Todestag von W.I. Lenin

Lenin: Einladung zu Tische

Auf der Suche nach einer emanzipierten Menschheit: Sieben Gründe, Lenin nicht seinen Feinden zu überlassen

  • Michael Brie
  • Lesedauer: 10 Min.
Frevelhafte, geschichtslose Bilderstürmerei: Statt sich mit Lenin, einer der berühmtesten Gestalten des 20. Jahrhunderts, kritisch auseinanderzusetzen, wurde sein Denkmal in Berlin demontiert und durch einen Sprudelbrunnen (!) ersetzt.
Frevelhafte, geschichtslose Bilderstürmerei: Statt sich mit Lenin, einer der berühmtesten Gestalten des 20. Jahrhunderts, kritisch auseinanderzusetzen, wurde sein Denkmal in Berlin demontiert und durch einen Sprudelbrunnen (!) ersetzt.

Die Linke hat Lenins Leichnam den Siegern der Geschichte überlassen – den Stalinisten wie ihren liberalen Gegnern. Die einen mumifizierten ihn zu einem Götzen der Anbetung eigener Macht, die anderen verteufelten ihn als Feind von Demokratie und Menschenrechten. Die Neue Linke verstand sich vor allem als antileninistische Linke und zelebrierte den Bruch mit seinem Erbe. Mit dem Absturz der Sowjetunion in den Orkus der Geschichte schien 1991 das letzte Wort über den Begründer dieses Staates gesprochen. Es waren die Führer genau jener Partei, die er gegründet und geformt hatte, die zu den Totengräbern seines Werkes wurden.

Lenin auch 100 Jahre nach seinem Tod nicht den Feinden zu überlassen, hat einen einzigen Zweck. Es soll der Linken nützen in Vorbereitung auf jene Stunde der Rettung, in der, wie Walter Benjamin 1940 schrieb, der »feste, scheinbar brutale Zugriff« auf die Tagesordnung tritt. Es gehe um ein Lernen von Lenin und aus den Folgen seines Handelns. Dazu gehört das Wissen um die Verkehrung von Zweck und Mitteln, um die Bedeutung jener Grenze zur Ahumanität, die Linke nicht überschreiten dürfen, um ihrer selbst und ihrer Ziele willen. Denn revolutionäre Tatkraft macht, wie Rosa Luxemburg 1918 auch mit Blick auf die Russische Revolution schrieb, für sich allein nicht den »wahren Odem des Sozialismus« aus, sondern nur in unauflöslicher Verbindung mit »weitherzigster Menschlichkeit«.

In einer Situation der größten Krise der Menschheit seit dem Zweiten Weltkrieg, in einem Zeitalter des entfesselten Kriegs- und Katastrophenkapitalismus ist die Linke, zumindest in Europa, heute nur noch ein blasser Schatten ihrer selbst. Die Entsorgung Lenins aus dem Gedächtnis der Linken ist Teil dieses historischen Niedergangs. Aber wie kann von Marx gesprochen werden ohne Lenin? Wie von Luxemburg, Gramsci, Che Guevara oder Allende, wenn nicht auch von Lenin?! Wie soll eine Erneuerung der Linken möglich sein, wenn sie einen wichtigen Teil ihres revolutionären Erbes verleugnet?! Was bleibt von Sozialismus überhaupt, wenn Lenin in seiner Geschichte keinen Platz hat?! Sieben Gründe seien genannt, die es gibt, Lenin nicht den Feinden zu überlassen.

Erste These:
Lenins Nein zum Krieg

Lenins Aufstieg zu einer geschichtsverändernden Persönlichkeit begann mit seinem entschiedenen Nein zum Ersten Weltkrieg und der Forderung weniger anderer wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Waffen gegen den Hauptfeind, die herrschende Klasse, zu richten. Dieses Nein war unerschrocken. Lenin zog den Schluss, dass dieser Krieg nur durch einen revolutionären Bürgerkrieg beendet werden könne. Er wollte die Politik der Herrschenden nicht mäßigen, sondern sie bekämpfen.

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Dieses Nein sah auf das Wesen des Krieges, nicht auf den konkreten Anlass und Auslöser. Er spitzte unbeirrt zu, solange er hoffen konnte, damit der Revolution den Weg zu bereiten. Dabei ging es auch darum, sich Raum für Kompromisse auf der Basis einer eigenen linken Position des Neins zu sichern. Prinzipialität und Flexibilität schlossen sich für ihn nicht aus, sondern bedingten einander. Dies führte zum Friedensvertrag mit dem kaiserlichen Deutschland und zur Politik der friedlichen Koexistenz nach 1921. Sein Nein maß sich am Nutzen für revolutionäre Politik und konnte jäh zu einem begrenzten Ja zu Reform und Zugeständnissen werden, wenn dies sozialistischer Macht zu dienen schien.

Zweite These:
Lenins Dialektik

Die Zweite Internationale hatte die Dialektik wie einen toten Hund behandelt. Sie hatte sich der Ideologie des evolutionären Fortschritts ergeben, war unfähig geworden, den Bruch zu denken. Den »allgemeinen Gesetzmäßigkeiten« vertrauend, auf die sie den Marxismus reduzierten, verschlossen sie sich der Erkenntnis, dass es darauf ankommt, im einzelnen Ereignis das Potenzial zum Ausbruch aus dem allgemeinen Gefängnis der Komplizenschaft mit Kapitalismus und Imperialismus zu erkennen.

Es war Lenin, der im Briefwechsel von Marx und Engels, der vor dem Ersten Weltkrieg erschienen war, die Quelle für deren revolutionär kommunistisches Herangehen erkannte. Die Verurteilung zu fast völliger Handlungsunfähigkeit in den ersten Monaten des Exils in der Schweiz nutzte Lenin deshalb zum Studium ebendieser Dialektik an seiner Quelle – in Hegels abstraktestem Werk, seiner »Wissenschaft der Logik«. Anstelle der Evolution traten für ihn »Sprünge« in den Vordergrund, die unvermutet alles auf den Kopf stellen. Er entdeckte den Revolutionsdenker Hegel für die Linke neu. Es reicht für eine überzeugende linke Politik eben nicht hin, »im Allgemeinen« recht zu haben, sondern es kommt auch darauf an, sich entschieden für jene einzelne, die Massen im konkreten Augenblick konkret bewegende Frage mit dem Ziel eingreifender linker Politik einzusetzen. Wer hier versagt, hat auch »im Allgemeinen« versagt und wird bedeutungslos.

Es ist eine linke Krankheit, sich nicht auf die realen Widersprüche der realen arbeitenden Klasse in den realen Verhältnissen der imperialen Weltordnung und kapitalistischer Konkurrenz einzulassen. Dieses Einlassen verlangt, sich auch den nationalen, ethnischen, patriarchalen »Vorurteilen« zu stellen, die diese in solchen Verhältnissen entwickeln, um selbst aus dieser »Unreinheit« noch Kraft für linke Politik zu gewinnen. Nur wenn dies gelingt, kann in imperialistischen Zeiten gegen den Sturm angesegelt werden.

Dritte These:
Lenins Epochenanalyse

Mangelnde oder falsche Zeitdiagnose ist das große Stichwort, das gegenwärtig immer fällt, um die Schwäche der Linken zu begründen. Dabei ist an solchen Diagnosen wahrlich kein Mangel. Woran es mangelt, sind Zeitdiagnosen, denen strategischen Fragestellungen zugrunde liegen, die zu klaren Schlussfolgerungen für die Strategie der Linken führen. Allzu oft ist die Reinheit der Kritik des Kapitalismus damit verbunden, sich nicht auf die »unreinen« Wirkungen einzulassen, die diese Verhältnisse bei den arbeitenden Klassen hinterlassen. Die Analysen zur Zeit bleiben deshalb steril.

In den wenigen Jahren zwischen Ende 1914 und 1916 legte Lenin nicht nur das Buch »Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« vor, sondern arbeitete sich zudem erneut in die Agrarfrage ein, weil er im Verhalten der Bauernschaft in einer kommenden Revolution die Schicksalsfrage dieser Revolution sah. Er fragte nicht vor allem nach den klassenbedingten Grenzen dieser Kräfte, sondern – fern jedes Sektierertums – nach ihrem gesellschaftsverändernden Potenzial.

Welches also sind die prägenden Tendenzen der Gegenwart? Welche Szenarien sind realistisch, wo sind die Brüche im herrschenden System vor allem zu erwarten? Welche Möglichkeiten gibt es, auch aus einer Position der Schwäche heraus starke Bündnisse zu schmieden, um in offenen Situation einzugreifen, und was ist dann zu tun? Diese Fragen hatte sich Lenin nach 1914 gestellt und war damit wie kein anderer in der Linken auf das revolutionäre Moment von 1917 bis 1919 vorbereitet. Und es sind jene Fragen, die sich auch heute der Linken wieder stellen.

Vierte These:
Lenins Vision und Sofortprogramm

Mitten im Grauen des Ersten Weltkriegs und in den schnellen politischen Veränderungen in Russland nach der Februarrevolution, verfolgt unter dem Verdacht, ein von Deutschland bezahlter Agent zu sein, direkt involviert in die Vorbereitung der Übernahme der politischen Macht durch die Bolschewiki, schrieb Lenin an seinen illegalen Zufluchtsorten in Finnland sein Werk »Staat und Revolution«. Darin stoßen unvermittelt einerseits die Vorstellung von unmittelbarer Selbstverwaltung der Gesellschaft durch die bewaffneten Arbeiter von unten, der direkten Übernahme der Leitung der Wirtschaft durch die Arbeiter in den Betrieben und andererseits die Vorstellung der höchsten Zentralisation der Macht in den Händen der Arbeiterklasse aufeinander. Es ist so, als hätten Bakunin und Marx zugleich Lenins Feder geführt.

In der gleichen Zeit, in der Lenin an »Staat und Revolution« arbeitete, entwickelte er unter Nutzung der Diskussionen zur Kriegswirtschaft und der gewonnenen Erkenntnisse zu Planung und Steuerung von Wirtschaft durch die Monopole im Bündnis mit dem Staat ein Programm zur Stabilisierung Russlands im Sinne eines Staatskapitalismus unter Führung einer revolutionären Regierung. Es war dieses Programm, auf das er 1918 zurückgriff und dem er sich erneut beim Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik Ende 1920 zuwandte.

Lenins Visionen waren in sich zutiefst gegensätzlich, und sein Sofortprogramm war mit diesen Visionen nicht organisch verbunden. Das öffnete den Weg, geradezu beliebig die härteste Diktatur wie die radikalste Demokratie, die sofortige Abschaffung von Märkten und Recht genauso wie deren Stärkung in den Mittelpunkt zu rücken. Kriegskommunismus wie Staatskapitalismus konnten damit als sozialistische Politik begründet werden. Alles hing nur von den Machtverhältnissen und den politischen Entscheidungen ab. Das war für eine dauerhafte linke Politik deutlich viel zu beliebig.

Fünfte These:
Lenins Partei

Spätestens mit Gründung der Zeitschrift »Iskra« (Der Funke) 1900 stand für Lenin die Frage im Zentrum, eine Partei von Berufsrevolutionären zu schaffen, die in der Lage sein sollte, den Kampf für die ökonomischen Interessen der Arbeiter mit dem politischen Kampf zum Sturz des Zarismus zu verbinden. In seiner Programmschrift »Was tun?« von 1902 heißt es in aller Klarheit: »Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben!« Diese Orientierung erwuchs unmittelbar aus der eigenen, schamvoll erfahrenen Ohnmacht von Versuchen, die Arbeiter zu schulen und zu bilden, ohne dabei die Fragmentierung und Trennung des ökonomischen und politischen Kampfes aufheben zu können. Lenin wollte dieser »Handwerkelei«, wie er es abfällig nannte, entkommen und entwickelte das Konzept einer »Partei neuen Typus«.

Mit welchen Organisationsformen können heute erfolgreiche Kämpfe geführt werden, die die ökologische und soziale Frage in einer radikalen Transformation verbinden, wirtschaftliche Forderungen und langfristigen wirtschaftlichen Umbau zusammenführen, offensive Friedenspolitik bei Wahrung eigener Sicherheit durchsetzen, einen überzeugenden Beitrag zur Durchsetzung der UN-Ziele nachhaltiger globaler Entwicklung leisten? Ohne solche Organisationsformen, dies zumindest ist klar, wird der Katastrophenkapitalismus nicht aus den Angeln gehoben, sondern stürzt ab in offene Barbarei.

Sechste These:
Lenins Kampf um die Macht

Gerade in der jetzigen Situation sollte sich die Linke schmerzhaft bewusst sein, was Machtlosigkeit bedeutet. Sie führt zu Zersplitterung und Zerfall und in tiefe Ohnmacht angesichts der immer größer werdenden Gefahren und des möglichen Absturzes in offene Barbarei. Die Macht ist eine Verführung. Aber ohne Macht ist alles nichts als leere Absicht. Clara Zetkin gab 1920 eine Bemerkung von Luxemburg über Lenin aus dem Jahre 1907 wieder: »Schau den da gut an! Das ist Lenin. Sieh den eigenwilligen hartnäckigen Schädel! Ein echt russischer Bauernschädel mit einigen leicht asiatischen Linien. Dieser Schädel hat die Absicht, Mauern umzustoßen. Vielleicht, dass er daran zerschmettert. Nachgeben wird er nie.«

Lenin hat die sozialistische Linke zu nie gekannter Macht geführt. Um diese zu erobern und zu sichern, konnte er erbarmungslos sein und hat alles dieser einen Aufgabe untergeordnet. Zu spät und völlig vergeblich hat er, gezeichnet schon durch seine tödliche Krankheit, versucht, dem Missbrauch dieser Macht durch Stalin vorzubeugen und Gegenkräfte zu installieren. Seine letzten diktierten Worte, sein Testament, legen Zeugnis ab von seinem Scheitern angesichts der Gewalten unkontrollierter Herrschaft, die er mit seinem Kampf um Übernahme der Macht durch die bolschewistische Partei selbst entfacht hatte.

Siebte These:
Lenins Versagen ist unser Versagen

Die Krise der kapitalistischen liberalen Zivilisation ist organisch und allgemein geworden. Und gerade deshalb, um diesen Zustand der Katastrophe in Permanenz zu beenden, ist es Zeit, zurückzublicken und, wie Walter Benjamin sagt, »der Vergangenheit ein Mahl zu rüsten«, um sich der Zukunft zuzuwenden. Lenins ungeheure Wirkungsmacht ist nicht zu trennen von seinem Versagen, ein politisches System aufzubauen, das der Freiheit der Einzelnen keine Absage erteilt, das Lernen ermöglicht und dies nicht dem bloßen Kampf um Macht opfert.

Lenin hat sich diesem Versagen in seinen letzten Lebensjahren zu stellen versucht. Seine Schriften aus dem Jahr 1922 und von Anfang 1923, bevor ihm die Sprache versagte, waren neue, offene Suchprozesse. Unter Stalin wurden sie im Großen Terror erstickt, bevor sie mit Chruschtschow und später Gorbatschow neu begannen. In der Volksrepublik China hatten sie schon im Bürgerkrieg, aber auch in den 50er wie frühen 60er Jahren nie aufgehört und wurden dann seit 1978 nicht mehr unterbrochen. Es zeigte sich, dass eine in den Traditionen von Lenin stehende Staatspartei keinesfalls erneuerungsunfähig sein muss.

Aus der Geschichte können nur diejenigen lernen, die jene, die vor uns waren auf der Suche nach einer emanzipierten Menschheit zu Tische laden, sie als Genossinnen und Genossen verstehen, um mit ihnen über ihre großen Versuche und auch über das Scheitern zu sprechen. Und an diesen Tisch gehört auch Lenin. Wenn wir ihm nicht gerecht werden können, werden wir keine Zukunft haben.

Von Michael Brie erschien unter anderem 2017 die Publikation »Lenin neu entdecken«. Eine ausführlichere Fassung des hier veröffentlichten Textes ist abrufbar unter: www.rosalux.de/news/id/51514/sieben-gruende-lenin-nicht-den-feinden-zu-ueberlassen

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