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Historischer Moment für Nordirland

Irische Republikaner feiern den Amtsantritt der ersten katholischen Regierungschefin der britischen Provinz

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Als Michelle O’Neill am Samstagnachmittag in den Versammlungssaal des nordirischen Parlaments trat, auf dem Gesicht ein breites Lächeln, schrieb sie Geschichte. Zum ersten Mal seit der Gründung Nordirlands vor über 100 Jahren trat in Belfast eine irisch-nationalistische Politikerin als Regierungschefin an. O’Neill ist die Vizevorsitzende der Partei Sinn Féin, die sich die Wiedervereinigung mit der Republik Irland auf die Fahnen geschrieben hat. »Dies ist ein historischer Tag, der eine neue Morgendämmerung repräsentiert«, sagte sie an ihrer Antrittsrede.

Gewählt worden war O’Neill, 47 Jahre alt, bereits im Mai 2022. Sinn Féin errang damals die meisten Sitze in Stormont, dem nordirischen Parlament. Seitdem hatte ein Boykott der Democratic Unionist Party (DUP) die Regierungsbildung verhindert. Die protestantischen, pro-britischen Hardliner, die zwei Jahrzehnte lang die Regierung in Belfast angeführt hatten, protestierten damit gegen das Nordirland-Protokoll. Dieser Vertrag, der Teil des Brexit-Abkommens bildet, weist der britischen Provinz ein Sonderstatus zwischen der EU und Großbritannien zu. Die DUP beklagte sich, dass die dadurch bedingten Zollkontrollen einen Keil zwischen Nordirland und Großbritannien trieben.

Unionisten blockieren Regierung zwei Jahre lang

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Zwei Jahre lang hielt der Boykott an – bis vergangene Woche. Die DUP stimmte einem von der britischen Regierung ausgearbeiteten Dokument zu, das einen Großteil der Grenzkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland abbaut. Damit war der Weg frei für die Wiedererrichtung der Regierung in Belfast, und Michelle O’Neill kann endlich die Arbeit als Regierungschefin aufnehmen.

In ihrer Antrittsrede am Samstag betonte O‹Neill: »Ich werde eine Erste Ministerin für alle sein.« Den Unionisten reichte sie demonstrativ die Hand, indem sie beteuerte: »Euch allen, die britisch und unionistisch sind, sage ich: Eure nationale Identität, eure Kulturen und Traditionen sind wichtig für mich.«

Sinn Féin moderner als pro-britische Politiker

Für die irischen Nationalisten ist ihr Amtsantritt von großer Symbolik. Um deren Tragweite zu verstehen, muss man einen Blick in die Geschichte Nordirlands werfen. 1921, als Irland seinen Unabhängigkeitskampf gewonnen hatte und sich von Großbritannien abspaltete, blieb der nördliche, protestantisch dominierte Landesteil britisch. Die Grenze zu Irland wurde bewusst so gezogen, dass die Protestanten die deutliche Bevölkerungsmehrheit stellen – so wollte man sicherstellen, dass Nordirland pro-britisch bleibt. Jahrzehntelang war dies auch so. Aber seit geraumer Zeit wächst der katholische Bevölkerungsanteil, 2021 zählte man zum ersten Mal mehr Katholiken als Protestanten in Nordirland.

Zudem hat sich Sinn Féin, die wichtigste irisch-nationalistische Partei, von ihrem ehemaligen Sozialkonservatismus verabschiedet, etwa in Fragen der Abtreibung und gleichgeschlechtlichen Ehe. Damit kann sie die moderne nordirische Gesellschaft weit besser repräsentieren als die DUP, die noch immer weit konservativere Haltungen vertritt. Der Wahlsieg von Sinn Féin 2022 dürfte denn auch eine dauerhafte Verschiebung signalisieren. »Ich glaube nicht, dass es jemals wieder einen unionistischen Ersten Minister in Nordirland geben wird«, sagte Jon Tonge, Politikprofessor in Liverpool, gegenüber dem britischen »Guardian«. »Es ist vorbei.«

Wiedervereinigung bleibt vorerst ein Traum

Aber die Frage, ob damit auch der Weg frei ist für die Wiedervereinigung Nordirlands mit der irischen Republik, ist dennoch nicht so leicht zu beantworten. Laut einer Umfrage von Anfang Dezember sind die Nordiren davon kaum begeistert: 51 Prozent würden gegen ein vereinigtes Irland stimmen, nur 30 Prozent würden »Ja« sagen. Sowieso wird die konstitutionelle Frage vorerst kaum eine Rolle spielen. Zunächst muss die neue Regierung die zahlreichen sozialen Krisen angehen, die in der Zeit des Regierungsboykotts immer akuter geworden sind: ein unterfinanzierter Gesundheitsdienst, Wohnungsmangel und Armut.

Aber die Wiedervereinigung wird auf mittlere Frist aktuell bleiben – und die Vorgänge südlich der Grenze werden entscheidend sein: In der Republik Irland werden bis spätestens März 2025 Neuwahlen stattfinden. Auch hier liegt Sinn Féin weit vorne. Bei einem Wahlsieg wären in beiden Teilen der Insel die Nationalisten an der Macht – und die Frage, wie eine Wiedervereinigung Realität werden könnte, wäre dann weit oben auf der Prioritätenliste. Mit Blick auf O’Neills Amtsantritt sagte Mary Lou McDonald, die Chefin von Sinn Féin in Irland, vergangene Woche, die Wiedervereinigung sei bereits jetzt »in Reichweite«.

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