Sammelband »Was ist Antisemitismus?«: Alles Definitionssache?

Ein neu erschienener Band beleuchtet Begriffe, Problemfelder und Positionen in der Kontroverse um Antisemitismusdefinitionen

  • Urs Lindner
  • Lesedauer: 7 Min.

Anfang des Jahres hatte der Berliner Kultursenator Joe Chialo versucht, die Vergabe öffentlicher Fördergelder an ein Bekenntnis zur Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) zu koppeln. Deren Kern lautet: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann.« Nach teils heftigen Protesten gegen den Bekenntniszwang im Allgemeinen und die IHRA-Definition im Besonderen machte Chialo aufgrund juristischer Bedenken einen Rückzieher.

Dass Chialos Vorstoß keine gute Idee war, und zwar ganz unabhängig davon, wie die IHRA-Definition beurteilt wird, zeigt ein gerade erschienener Band zu Antisemitismusverständnissen, den Peter Ullrich, Sina Arnold, Anna Danilina, Klaus Holz, Uffa Jensen, Ingolf Seidel und Jan Weyand herausgegeben haben. Denn Chialos Maßnahme kollidiert mit dem mühsam errungenen Grundsatz politischer Bildung, dass das, was in der Wissenschaft kontrovers ist, auch kontrovers diskutiert werden muss.

Kontroverse Verständnisse

Die Definition der IHRA ist in der Wissenschaft vor allem als zu unbestimmt und deswegen instrumentalisierbar kritisiert worden. Seit 2021 ist sie zudem mit zwei konkurrierenden beziehungsweise sie ergänzenden Definitionen konfrontiert: der Jerusalem Declaration on Antisemitism (JDA) und dem Nexus Document. Der Kern der JDA lautet: »Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).« Ein Ausweg aus dem Dilemma ist, wie es einige Bundesstaaten in den USA tun, Entscheidungsträger*innen mehrere Antisemitismusdefinitionen an die Hand zu geben und – auf Grundlage der Überschneidungen zwischen ihnen – darauf zu vertrauen, dass die Akteur*innen mit den Unterschieden gut umgehen können.

Die Kontroverse um Antisemitismusverständnisse ist, wie Ullrich und Kolleg*innen betonen, keineswegs zufällig oder Resultat von Defiziten einer Seite, sondern in der Sache selbst begründet. Antisemitismus ist sowohl historisch als auch gegenwärtig ein viel zu komplexes Phänomen, als dass es die eine Definition geben könnte, die alles erfasst. Unterschiedliche Antisemitismusdefinitionen und -begriffe rücken je spezifische Ausschnitte ihres Gegenstands in den Blick – und alle haben blinde Flecken.

Dass der (deutsche) Antisemitismusdiskurs häufig von Unterstellungen, Verdrehungen und Anschuldigungen gekennzeichnet ist, dürfte auch damit zusammenhängen, dass viele Teilnehmer*innen (noch) nicht hinreichend ihre eigene Perspektivität anerkennen. Der Band ist ein sehr überzeugendes Plädoyer, genau das zu tun und anderen Akteur*innen gute Absichten zuzuschreiben. Entsprechend werden Sichtweisen, die den eigenen zuwiderlaufen, unter Betonung ihrer Stärken dargestellt, um sie auf dieser Grundlage zu problematisieren.

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Ein Handbuch

Der Band ist in vier Abschnitte gegliedert. Die ersten drei Teile haben den Charakter eines Handbuches. Zunächst werden zehn »Grundbegriffe« ausgeleuchtet, mit denen Antisemitismus in der Forschung typisiert wird. Es folgen Einführungen in 13 »Problemfelder«, die für Antisemitismusverständnisse relevant sind. Schließlich werden 13 »Positionen« vorgestellt, mit denen Theoretiker*innen die Frage beantwortet haben, was Antisemitismus ist. Während die Handbuchartikel von insgesamt 22 Autor*innen geschrieben sind, besteht der vierte und letzte Teil aus einem 75-seitigen Text von Peter Ullrich, der eine Systematisierung und wissenschaftstheoretische Befragung von Antisemitismusbegriffen vornimmt.

Mit seinem Handbuchcharakter füllt der Band eine Lücke und zeichnet ein breites Panorama der Antisemitismusverständnisse. Katharina Kellenbach etwa betont in ihrem Eintrag zum Antijudaismus, dass sich der moderne Antisemitismus nicht trennscharf von der religiösen Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden abgrenzen lässt, dass er also vielleicht doch nicht so »modern« ist, wie vielfach angenommen. Meron Mendel reflektiert »umkämpfte Sprechpositionen« und fordert in Anlehnung an Thomas McCarthy, dass »Betroffene« das erste, nicht jedoch das letzte Wort in der Diskussion haben sollten. Unter den »Positionen« werden auch Theoretiker*innen vorgestellt, die in der deutschsprachigen Antisemitismusdebatte bisher kaum vorkommen wie die 2022 verstorbene Genozidforscherin Helen Fein und der US-amerikanische Historiker Jonathan Judaken.

Nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist es von besonderem Interesse, was der Band zu Antisemitismus im und um den Nahost-Konflikt zu sagen hat. »Entscheidendes Kriterium für israelbezogenen Antisemitismus«, so Thomas Haury, »ist nicht die Radikalität der Ablehnung oder die Richtigkeit der Argumente, sondern ob diese Antisemitismus reproduzieren«. Demnach ist nicht jede einseitige, schlecht begründete oder vehement vorgetragene »Israelkritik« antisemitisch. Haury zufolge haben antisemitische Semantiken seit den 1930er Jahren »zunehmend als Interpretationsfolie« gedient, »womit in den Realkonflikt die Dimension des Antisemitismus massiv und kaum entwirrbar eingezogen wurde«.

Wie zuletzt Dan Diner in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 23. Januar 2024 heben Peter Lintl und Peter Ullrich hervor, dass der Konflikt um Israel/Palästina basal ein nationaler Konflikt um Land ist, der »mindestens aus der Sicht der Palästinenser*innen auch (anti-)koloniale Züge« trägt. Damit problematisieren sie den »3-D-Test« von Nathan Sharansky, der auch in Deutschland weite Verbreitung gefunden hat, seriös aber nur als erste Prüfung eines Antisemitismusverdachts dient: »Die drei Kriterien des Tests zur Erkennung von Antisemitismus (Delegitimation, Dämonisierung, doppelte Standards) sind nicht nur Strategien beider Seiten, die im Konflikt selbst strukturell angelegt sind, sondern vielmehr, wie die Konfliktforschung zeigt, Bestandteil vieler Konflikte.«

In einem weiteren Eintrag der »Problemfelder« rekonstruiert Ullrich »zwei Familien von Antisemitismusbegriffen«. Das »substanzielle« Konzept macht Antisemitismus vom Vorliegen einer antisemitischen Semantik abhängig, die sich gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden richtet. Der »abstrakt-formale« Begriff diagnostiziert dagegen dann Antisemitismus, wenn allgemeine Negativmerkmale und -strategien gegen eine jüdische Entität gewendet werden, also Israel zum Beispiel zu einem »Apartheidstaat« erklärt wird. Die JDA befindet sich demnach auf der substanziellen Seite, die IHRA-Definition irgendwo zwischen den beiden Begriffsfamilien.

Gründe für Pluralismus

In seinen synthetisierenden Abschlussüberlegungen, die durch große analytische Präzision bestechen, betont Ullrich auch die »notwendige Vagheit« von Antisemitismusdefinitionen und verweist auf Überraschungen in ihrer Anwendung. Das lässt sich gut am Beispiel der deutschen Antisemitismusbeauftragten verdeutlichen. Einige von ihnen sind wenig zimperlich in der Ausgrenzung antizionistischer Jüdinnen und Juden, was ihnen wiederholt Antisemitismusvorwürfe eingetragen hat.

Mit der JDA müssen die Beauftragten gegen derartige Vorwürfe verteidigt werden, auch wenn ihre Praktiken als illiberal oder sonst wie fehlgeleitet kritisiert werden können. Sie grenzen Jüdinnen und Juden nicht als Jüdinnen und Juden aus, sondern als Antizionist*innen. Die IHRA-Definition dagegen bringt sie in Bedrängnis. Es ist kein Geheimnis, dass manche der Beauftragten das kosmopolitische Diaspora-Judentum negativ wahrnehmen und ihrer Arbeit mit großer Leidenschaft nachgehen, womit sie dem Kern der IHRA-Definition doch recht nahekommen. Es sprechen also nicht nur demokratietheoretische Gründe für Pluralismus bei den Definitionen, sondern dieser könnte auch im Eigeninteresse aller Beteiligten liegen.

Der Band eröffnet Wege, um die verhärteten Fronten der Antisemitismusdiskussion aufzubrechen – und wird damit bei denjenigen, deren politische Identität an diesen Fronten hängt, auf wenig Gegenliebe stoßen. Zu kritisieren ist allenfalls, dass er seinen Ansatz beim Eintrag über »postkolonialen Antisemitismus« nicht konsequent durchhält. Jan Weyand bemüht sich zwar um Differenzierung, verfällt jedoch in die Leier, postkoloniale Zugänge würden die Shoah zu einem »Verbrechen unter anderen« machen, und wirft ihnen deshalb »Relativierung« vor. Hingegen verstehen diverse postkoloniale Autor*innen, allen voran Dirk Moses, die Shoah als Extremfall. Das Wohlwollen, das der Band anderen entgegenbringt, darf auch für ihn selbst gelten. Auf der Qualitätsskala der Antisemitismustheorie befindet er sich jedenfalls ganz weit oben.

Urs Lindner ist Philosoph am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und derzeit Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

Peter Ullrich/Sina Arnold/Anna Danilina/Klaus Holz/Uffa Jensen/Ingolf Seidel und Jan Weyand (Hrsg.): Was ist Antisemitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft. Wallstein, 315 S., br., 24 €.

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