Weniger Überschuldete in Berlin

Creditreform stellt neuen Schuldneratlas vor – und rechnet mit Zunahme von Überschuldungen

Jede*r zehnte Berliner*in ist überschuldet. Das geht aus den neuesten Zahlen des Creditreform-Schuldneratlas 2023 hervor. Im bundesweiten Vergleich liegt das Land Berlin mit 10,04 Prozent an drittletzter Stelle; nur in Sachsen-Anhalt (10,78 Prozent) und Bremen (12 Prozent) ist der Anteil von Menschen, die die Summe ihrer fälligen Zahlungsverpflichtungen mit hoher Wahrscheinlichkeit über einen längeren Zeitraum nicht begleichen können, höher. Bundesweit liegt die Überschuldungsquote bei 8,15 Prozent.

Die Zahl der überschuldeten Verbraucher*innen ist in Berlin damit weiter gesunken. Waren es 2020 in absoluten Zahlen noch 365 978, weisen die Angaben von Creditreform für 2023 lediglich 307 575 Überschuldete aus. Mit dem Rückgang liegt Berlin im bundesweiten Trend. Diese positive Entwicklung ist aber mit Vorsicht zu genießen. Denn bundesweit gibt es bei allen positiven Entwicklungen einen Ausreißer: Bei den unter 30-Jährigen ist die Überschuldungsquote erstmals seit 2013 leicht gestiegen. Creditreform macht dafür auch neue Angebote von Konsumkrediten verantwortlich.

Im Vergleich der Berliner Bezirke gibt es frappierende Unterschiede. Die niedrigste Überschuldungsquote hat Steglitz-Zehlendorf mit 6,38 Prozent, gefolgt von Pankow mit 7,75 Prozent. Spitzenreiter ist der Bezirk Spandau mit 13 Prozent, gefolgt von Marzahn-Hellersdorf mit 12,63 und Neukölln mit 12,28 Prozent. Noch deutlicher wird der Unterschied beim Blick in die einzelnen Kieze. Im Postleitzahlbereich 14129, also in den Ortsteilen Nikolassee, Schlachtensee und Zehlendorf, sind nur 3,79 Prozent der Berliner*innen überschuldet. Im Bereich 12689 um den S-Bahnhof Ahrensfelde in Marzahn-Hellersdorf ist fast jede*r Fünfte betroffen.

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»Der Rückgang der Überschuldung hat die Talsohle erreicht«, meint Patrick-Ludwig Hantzsch, Leiter der Witschaftsforschung von Creditreform zum bundesweiten Trend. Es werde sehr sicher eine Zunahme der Überschuldung geben. Christian Frey, Pressesprecher von Creditreform Berlin-Brandenburg erklärte, dass angesichts gestiegener Energie-, Lebensmittel- und vor allem Mietkosten weiter mit einer Abwanderung einkommensschwacher Menschen in die Randbezirke zu rechnen sei.

Die paradoxe Situation, dass Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und die folgende ökonomische Krise nicht zu mehr privaten Schulden führen, erklärt Creditreform damit, dass der Staat sowohl Unternehmen als auch Privatpersonen mit verschiedenen Maßnahmen unter die Arme gegriffen hat. Nun, da diese Hilfsmaßnahmen auslaufen, drohen mehr Menschen langfristig zahlungsunfähig zu werden.

Diese Befürchtung teilt auch Anne Wistuba, Leiterin der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner- und Insolvenzberatung Berlin: »Wir gehen leider davon aus, dass es eine steigende Überschuldung geben wird.« Das liege daran, dass die Lebenshaltungskosten nicht sinken und die gesamtwirtschaftliche Situation nicht so gut sei. Die Anzahl der Beratungen sei im Vergleich zum Vorjahr zwar leicht gestiegen, aber das sei nicht wirklich aussagekräftig, weil mit dem bestehenden Personal nur eine bestimmte Anzahl an Beratungen pro Jahr durchgeführt werden könne.

»Generell haben die Menschen, die in die Beratungen kommen, einen sehr hohen Leidensdruck«, erläutert Wistuba. Die meisten hätten schon wiederholt selbstständig versucht, ihre Probleme zu lösen, bevor sie in die Beratung kommen. »Verschuldung ist nach wie vor sehr schambehaftet.« Nahezu alle Personen, die Beratung suchen, verfügen über niedrige Einkommen, so Wistuba. »Bei Menschen aus dieser Einkommensgruppe ist der Anteil der Mietkosten wesentlich höher als im Durchschnitt.« Steigende Energiepreise beispielsweise führen dann zu erheblichen Belastungen.

»Wir beobachten seit Jahren zwar statistisch einen Rückgang der Überschuldung«, meint Taylan Kurt, Sprecher für Soziales der Grünenfraktion im Abgeordnetenhaus, »Gleichzeitig sehen wir aber eine massive Zunahme von Armut in Berlin.« Vor allem die verdeckte Armut nehme zu, so Kurt. »Wir sehen eine Entwicklung, dass die Wirtschaftszahlen besser werden, aber immer mehr Leute kommen gerade so oder gar nicht über die Runden.« Diese seien dann vielleicht nicht überschuldet und würden auch nicht zwangsläufig Sozialleistungen vom Staat bekommen, sind aber trotzdem aufgrund der Inflation armutsgefährdet. »Das kann dann eine alte Frau sein, die ihr Leben lang gearbeitet hat und jetzt Pfandflaschen sammeln gehen muss, weil die Rente nicht reicht, oder auch Alleinerziehende, die mit dem Kindergeld und einem Teilzeitgehalt nicht über die Runden kommen.« Man müsse die Schuldnerberatungen ausbauen, aber vor allem die Unterstützung für arme Menschen verbessern, fordert Kurt.

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