Militarisierung als Innovationsmotor in der Forschung

Expertenkommission empfiehlt, die zivile und die militärische Forschung nicht länger zu trennen

  • Manfred Ronzheimer
  • Lesedauer: 7 Min.

Innovationen bedeuten Veränderungen, sind ein Abschied vom Bestehenden. Das ist aber nicht immer gewollt, wie die Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) in ihrer nun schon 16-jährigen Tätigkeit im Auftrag der Bundesregierung wiederholt hat erfahren müssen. Der Vorschlag für Innovationen muss auch zum richtigen Zeitpunkt kommen, wie sich am Beispiel ihres in der vorigen Woche an Bundeskanzler Scholz übergebenen Jahresgutachtens zeigt. War das Votum der Experten, in Deutschland die strikte Trennung von ziviler und militärischer Forschung aufzuheben, im vergangenen Jahr noch ein »Ladenhüter«, kommt es unter der verschärften weltpolitischen Sicherheitsheitslage jetzt zur gegenteiligen Reaktion: »Zeitenwende in der Forschung«, schlagzeilt etwa die »FAZ«.

Die Expertenkommission Forschung und Innovation wurde 2008 gegründet und leistet seitdem wissenschaftliche Politikberatung für die Bundesregierung. Wichtigstes Produkt ist ein jährliches Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands. Gemäß ihrem Auftrag analysiert EFI darin die Stärken und Schwächen des deutschen Innovationssystems im internationalen und zeitlichen Vergleich und bewertet die Perspektiven des Forschungs- und Innovationsstandorts Deutschland. Die Vorschläge treffen auf erhöhte Resonanz in Verwaltung und Politik. Mitglieder der Expertenkommission sind die Professorinnen und Professoren für Wirtschaft Irene Bertschek (ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH Mannheim), Guido Bünstorf (Universität Kassel), Uwe Cantner (Universität Jena), Carolin Häussler (Universität Passau), Till Requate (Universität Kiel) und Friederike Welter (Institut für Mittelstandsforschung Bonn).

Künstliche Intelligenz mit Aufholbedarf

Die Schwerpunktthemen der 188 Seiten umfassenden Expertise sind in diesem Jahr die Künstliche Intelligenz, Technologien für eine nachhaltige Landwirtschaft, Soziale Innovationen, die als wesentliches Element zur Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen angesehen werden, sowie die internationale Mobilität im Wissenschafts- und Innovationssystem. Im politischen Eingangsteil werden aktuelle Themen der Forschungspolitik angesprochen, etwa der Fortgang der »Zukunftsstrategie Forschung und Innovation«, die mit ihrem Missionsansatz »energisch weiterverfolgt« werden sollte, oder die Gründung der Deutschen Agentur für Transfer und Innovation (DATI).

Ein inhaltlicher Schwerpunkt ist der Künstlichen Intelligenz (KI) gewidmet. Bei ihrem Einsatz müsse Deutschland »dringend aufholen«, stellt die EFI-Kommission fest. Das Urteil fußt auf dem internationalen Vergleich von wissenschaftlichen KI-Publikationen und KI-Patenten, die Kommissionsmitglied Carolin Häussler von der Universität Passau vorgenommen hat. Ihr Befund: »China und die USA dominieren im Bereich der KI die Technologieentwicklung, während Deutschland und die EU zurückfallen«. Auch bei der Entwicklung von großen Sprachmodellen und multimodalen Modellen, die beide als Grundlagenmodelle für vielfältige KI-Anwendungen dienen, seien »Deutschland und die EU nicht führend«. In diesem Zustand gerate auch die technologische Souveränität in Gefahr. »Technologische Souveränität im Bereich KI setzt voraus, dass Deutschland gemeinsam mit der EU KI-Technologien selbst vorhalten und weiterentwickeln kann«, erläutert Häussler. Fehle dies, wüchsen einseitige Abhängigkeiten von anderen Wirtschaftsräumen, ob Amerika oder Fernost.

Vorbilder USA und Israel

Künstliche Intelligenz ist das derzeit prominenteste Beispiel für eine »Dual Use«-Technologie, die in zweifacher Weise sowohl im zivilen Bereich als auch für militärische Zwecke genutzt werden kann. »Die Bedeutung von Dual Use ist – auch infolge der hohen Anwendungsbreite der digitalen Technologien – in den vergangenen Jahren stark gestiegen«, stellt die EFI-Kommission fest.

Weil die Berührung der beiden Welten zu Leistungs- und Effizienzsteigerungen sowohl im militärischen als auch im zivilen Sektor beitragen können, wird »Dual Use« in vielen Ländern von den Regierungen aktiv gefördert. Als Beispiele für Förderorganisationen werden die DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) in den USA – mit einem Jahresbudget von 4,1 Milliarden US-Dollar – und die »Militäreinheit 8200« in Israel genannt. Beide Einrichtungen sind zwar Teil des Militärkomplexes, aber es gibt zeitlich versetzt einen »Overflow« in den Zivilbereich. In Israel geschieht dies dadurch, dass es den IT-Spezialisten erlaubt ist, ihre militärisch erworbenen Kompetenzen – etwa zur Codeentschlüsselung und Cyberkriegsführung – später in zivilen IT-Start-ups zu nutzen.

Auch aus volkswirtschaftlicher Warte macht die Kooperation von militärischer und ziviler Forschung und Entwicklung (FuE) nach Einschätzung der Kommission Sinn. Die EFI-Studie zitiert eine US-Langzeitstudie, nach der »ein US-Dollar an staatlich finanzierter militärischer FuE zwischen 0,57 und 0,72 US-Dollar an zusätzlichen privaten FuE-Ausgaben anregt«. Ein ähnlicher Wirkungseffekt lasse sich auch für die Beschäftigung nachweisen.

Bislang besteht in der deutschen Hochschullandschaft, in der viele Universitäten durch »Zivilklauseln« die Durchführung von militärischer Forschung für sich ausgeschlossen haben, zwar keine Bereitschaft, dies zu ändern. Die interessierte Aufnahme der EFI-Vorschläge im politischen Raum deutet aber darauf hin, dass hier ein Stein ins Rollen gekommen ist. »Es ist an der Zeit, die strikte Trennung zwischen ziviler und militärischer Forschung in Deutschland zu hinterfragen und neu zu bewerten«, erklärte Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger.

Auch ein bislang eher randständiges Thema der Forschungspolitik, die »sozialen Innovationen«, greift der EFI-Bericht auf. Darunter werden Organisationsformen verstanden, »die zur Lösung gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Probleme beitragen und damit einen gesellschaftlichen Mehrwert schaffen«, heißt es im EFI-Gutachten im etwas knöchernen Professorendeutsch. Die angeführten Beispiele sind dann schon konkreter, wie etwa Mehrgenerationenhäuser und Bürgerenergiegenossenschaften, Online-Vernetzungsplattformen oder die kollektiven Finanzierungsformate der »Crowd Economy«. Unter anderem fordern die Experten, die statistische Faktenlage zu verbessern.

Präzisionstechnologien statt Chemie

Das Kapitel über Innovationschancen im Agrarsektor benennt die Herausforderungen, die es mittels moderner Technik zu lösen gilt: das globale Bevölkerungswachstum, die Anpassung an den Klimawandel, der Rückgang landwirtschaftlicher Flächen sowie Biodiversitätsverlust und Grundwasserbelastung, die durch die Landwirtschaft selbst verursacht werden. »Die Landwirtschaft muss in Zukunft größere Mengen an Nahrungsmitteln mit weniger umweltbelastenden Betriebsmitteln wie Pflanzenschutz- und Düngemitteln produzieren«, hebt Wirtschaftsprofessor Till Requate von der Universität Kiel als Hauptautor hervor.

Der Einsatz von Präzisionstechnologien und »Smartfarming« durch Farm-Management-Systeme oder digital unterstützte Landmaschinen sowie Produkte der Grünen Gentechnik sind als solche zwar keine Neuheit mehr. »Einer breiten Nutzung solcher Technologien stehen jedoch noch Hürden im Weg«, stellt der Bericht fest. Dazu zählen etwa die hohen Anschaffungskosten für Präzisionstechnologien, aber auch Versäumnise der ökologischen Gesamtrechnung. Der Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln könne nur deshalb vergleichsweise billig sein, weil die negativen Umwelteffekte nicht hinreichend berücksichtigt werden, wird ausgeführt. »Damit neue, umweltschonende Präzisionstechnologien vermehrt eingesetzt werden, bedarf es einer Abgabe auf Pflanzenschutz- und Düngemittel«, fordert daher Uwe Cantner von der Universität Jena als Vorsitzender der Expertenkommission.

Hemmnisse für die Grüne Gentechnik

In der Pflanzenzüchtung tritt der Fortschritt auf der Stelle, wegen des politischen Kampfes um die Grüne Gentechnik. Neue Möglichkeiten bietet die Genomeditierung. »In Deutschland und der EU bleibt das Potenzial jedoch ungenutzt aufgrund eines nicht zeitgemäßen und inkonsistenten Rechtsrahmens, der nicht wissenschaftlich fundiert ist«, erläutert Irene Bertschek vom Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW).

Dieser Rechtsrahmen schränkt aus Sicht der EFI-Kommission nicht nur die Forschung in der Biotechnologiebranche ein, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der landwirtschaftlichen Produktion in der EU. »Aus diesem Grund muss der derzeit gültige Rechtsrahmen überarbeitet und eine vom Züchtungsverfahren unabhängige Regulierung etabliert werden, da keine verfahrensinhärenten Risiken festgestellt werden können«, betont der Kommissionsvorsitzende Cantner.

»Ein weiteres großes Hemmnis bei der Nutzung Grüner Gentechnik ist die geringe Akzeptanz in der Bevölkerung, die daher wissenschaftlich fundiert zur Grünen Gentechnik informiert werden muss«, ergänzt Till Requate. Eine solche Kommunikationsstrategie der Bundesregierung sollte sich auch in »einer konsistenten Gesetzgebung widerspiegeln«, empfiehlt er. Die nächste kleine forschungspolitische »Zeitenwende«, die in Deutschland bevorsteht.

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