Rein in die Leere: »Puppy« von Jeff Koons

Dieser Blumenhund sollte uns beim Schreiben begleiten: »Puppy« von Jeff Koons

  • Jan Decker
  • Lesedauer: 8 Min.
Wir können Dinge erschaffen, die wir erschaffen wollen: Mittlerweile steht Puppy in Bilbao.
Wir können Dinge erschaffen, die wir erschaffen wollen: Mittlerweile steht Puppy in Bilbao.

Es hat eine Weile gedauert. Aber jetzt habe ich es begriffen. Ich schreibe nur noch die Texte, die ich schreiben möchte. Die anderen lasse ich einfach weg. Leicht gesagt, denn ich habe bis eben an einem solchen Text geschrieben. Er hat mich angeödet, müde gemacht, stumpf. Am Ende ist alles nur eine Frage der Form. Ich meine nicht die Tagesform des Autors, seine Fitness. Sondern die künstlerische Form, die ein Text eben hat oder nicht. Ich behaupte, dass genau das, was mich müde gemacht hat, die Abwesenheit einer künstlerischen Form in meinem Text war.

Halt, das ist zu einfach. Glauben und Literatur, ein problematisches Verhältnis. Zeigt sich ein gelungener Text wirklich immer in der Anwesenheit einer künstlerischen Form? Schließlich hat jeder Text irgendeine Form. Außerdem gibt es genug Texte, die funktionieren, obwohl sie eine unmögliche Form haben. Ich befürchte, wir müssen tiefer schürfen, um in Zukunft die Hände von Texten zu lassen, die wir nicht schreiben möchten. Dazu habe ich eine Anekdote anzubieten. Sie führt in meine Jugend zurück und ist ein Kabinettstück über die Anwesenheit einer künstlerischen Form (in einem Hund).

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Ich war 15 Jahre alt, wir besuchten meine Großeltern in Bad Arolsen, einer Kleinstadt zwischen Kassel und Paderborn. Normalerweise passiert dort nichts. Doch diesmal war alles anders. Es war 1992, das Jahr der 9. Documenta, jener legendären Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst, die damals vom belgischen Kunsthistoriker Jan Hoet geleitet wurde. Ich stolperte bei diesem Besuch bei meinen Großeltern in die große Sensation der Kleinstadt Bad Arolsen des Jahres 1992 hinein, die sich dort vor dem wunderschönen barocken Residenzschloss abspielte. Die Protagonisten dieser Anekdote sind der US-amerikanische Künstler Jeff Koons, seine damalige Ehefrau Cicciolina – eine ungarisch-italienische Pornodarstellerin und spätere Politikerin – und ein Hund aus Blumen namens Puppy. Koons und Cicciolina waren, das muss ich hinzufügen, das Society-Pärchen ihrer Zeit.

Cicciolina trug ein züchtiges pinkfarbenes, irgendwie barockes Kleid, das stark mit ihren flachsblonden Haaren und ihrem üppigen roten Mund kontrastierte. Man merkte, dass sie in Jeff Koons verliebt war. Der seinerseits grinste unentwegt aus seinem grauen Anzug mit hellblauer Krawatte, der dem damals schon sehr hoch gehandelten Künstler insgesamt das Aussehen eines verwegenen Autohändlers verlieh. Die beiden absolvierten einen Pressetermin. Das heißt, sie wurden ausgiebig fotografiert, gaben ein paar Blödsinnigkeiten von sich und verschwanden wieder.

Was sie an diesem Tag in Bad Arolsen präsentierten, waren demnach zunächst einmal sie selbst: die perfekte Ehe von Kitsch und Hochkultur. Doch hinter ihnen stand noch etwas, ziemlich hoch und bunt. Und dieses Etwas war der Dritte im Bunde an diesem Tag: Es war Puppy, jener berühmte West-Highland-Terrier aus Blumen, der heute vor dem Guggenheim-Museum in Bilbao steht.

Aber wie passt diese Anekdote zu einer Poetologie der künstlerischen Klarheit? Nun, es soll ja um die Anwesenheit einer künstlerischen Form gehen – hier in einem Hund aus Blumen namens Puppy zu finden. Wir sollten uns an Puppy orientieren, um die Texte zu schreiben, die wir schreiben möchten. Das Geheimnis, das Puppy dabei zum Leithund für alle Autoren machen kann, ist die banale Tatsache, dass Puppy innen leer ist. Das ist spektakulär! Eine Zeile aus der Feder eines Kunstjournalisten, der auch bei dem Auftritt von Koons und Cicciolina in Bad Arolsen anwesend war, trifft es ganz gut: »Jeff Koons, ein Prophet der inneren Leere.«

Ja, dass die innere Leere immer ein guter Anfang für Texte ist, ist doch verflucht interessant, finde ich. Denn anscheinend haben die Texte, die ich nicht schreiben möchte, zu viel falsche Füllung – um eine vorsichtige erste Diagnose zu wagen.

An dieser Stelle muss ich abschweifen. Oder besser einen Rahmen setzen. Denn diese Anekdote spielt in Bad Arolsen, einem Ort, der in meiner Kindheit und Jugend für mich selbst stark von einem Gefühl der inneren Leere geprägt war. Dieses Gefühl war mir lange unerklärlich. Bis ich Hans Ulrich Gumbrechts Buch »Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart« las, das eine interessante Ausdeutung dieses Gefühls der inneren Leere vornimmt, das ich dort lange vor Puppy empfand. Latenz ist für Gumbrecht die fortdauernde Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart, und zwar so, dass die Vergangenheit diese Gegenwart besetzt und nicht freigibt. Eine Beklommenheit entsteht, ein permanentes Gefühl der mangelnden Klarheit.

Gumbrecht führt drei Figuren von Latenz an, typische Erscheinungsformen dieses merkwürdigen Gefühls. Die erste Figur besagt, dass Menschen an einem Ort sind, an dem sie nicht sein wollen, von dem sie aber auch nicht mehr wegkommen. Das entspricht ziemlich genau der Situation meiner Großeltern, die als Kriegsvertriebene nach Bad Arolsen kamen, um vorübergehend bei Verwandten zu wohnen. Sie wollten nie wirklich dort sein, aber sie blieben ihr restliches Leben lang in Bad Arolsen.

Die zweite Figur besagt, dass sich von Latenz geprägte Menschen in einem dauernden Wechselspiel von Unwahrhaftigkeiten und Befragungen aufhalten. Die Unwahrhaftigkeit existiert in meiner Familie in der Form eines Familiengerüchts. Es besagt, dass wir Deckers mit dem Wuppertaler Philosophen Friedrich Engels verwandt seien, dem Erfinder des Marxismus. Obwohl ich dieses Familiengerücht in einem Feature für Deutschlandfunk Kultur publikumswirksam entkräften konnte, lebt es bis in die Gegenwart fort. Es ist die Umformung der gar nicht so berühmten Familienvergangenheit zu einer heroischen Geschichte, die nun als die strahlende Wahrheit erscheinen kann.

Die dritte Figur besagt, dass sich von Latenz geprägte Menschen am liebsten in Containern aufhalten und gleichzeitig permanent von Entgleisungen träumen. Sie empfinden die Gegenwart als einen geschlossenen Raum, den sie nicht verlassen können – und lieber gleich verschlossen halten, denn draußen lauern nur Feinde. Gleichzeitig wünschen sie sich die völlige Atomisierung dieses Raums (eine Art negative Klaustrophobie), sonst würden sie auf Dauer ja verrückt werden. Vor ein paar Monaten war ich wieder in Bad Arolsen. Wir fuhren mit dem Auto von der Ferienwohnung meiner Eltern zu einem Restaurant, nur etwa 300 Meter weit entfernt. So war sichergestellt, dass wir uns fortwährend in Containern aufhielten.

Dieser Exkurs über Bad Arolsen und seine Latenzfiguren soll zeigen, dass die innere Leere von Puppy, dem Blumenhund, die mir als ein Ideal der künstlerischen Form erscheint, nicht allein für sich existiert, sondern dass sie – je ortsabhängig – einen gewaltigen Subtext hat, den wir in sie hineindenken müssen. Ja, meine kurze Begegnung mit Jeff Koons und Cicciolina war mir bisher nicht viel wert. Ich schrieb in all den Jahren seit 1992 viel, auch manche Texte, die ich gar nicht schreiben wollte. Die Sache mit den beiden und Puppy war eine belanglose Jugendanekdote. Heute kommt mir die Begegnung mit ihnen wie eine prophetische Angelegenheit vor.

Eine Form entsteht immer aus dem Zurückweichen vor dem Ansturm an Möglichkeiten, künstlerisch zu gestalten, aus der Besinnung auf die wesentlichen Konturen, aus denen man dann gestalten will – und die einer Melodie gleichen. Der Originalität sind dabei äußere Grenzen gesetzt. Wir können nicht Dinge erschaffen, die völlig neu sind. Aber wir können Dinge erschaffen, die wir erschaffen wollen. Diese Freiheit in uns entspricht dem Innenraum von Puppy, einem zunächst nur mit Luft angefüllten Innenraum einer Skulptur, in dem alles Mögliche entstehen kann.

Wie entstand dieser hellsichtige Hund, eine zwölf Meter hohe Skulptur mit insgesamt 17 000 Blumen, eigentlich? Aus einer Renitenz! Jeff Koons war von Jan Hoet nicht zur Documenta eingeladen worden. Er stellte aus Trotz einfach seinen Riesenhund in Bad Arolsen auf. Trotz ist immer ein guter Indikator für die Anwesenheit einer künstlerischen Form. Weil er klarmacht und auf Wirkung abzielt. Lockerheit und Präsenz machen ihn aber erst konsumierbar. Daraus entsteht Klarheit auf hohem Niveau.

Das Schöne an Puppys Form ist ja, dass diese auch nach ihrer Enthüllung der ständigen Pflege bedarf – der Blumenpflege. Und Puppy wandelt sich. Je nach Jahreszeit erscheint er mal bunt, mal grün, mal grün mit bunten Sprenkeln. Puppy zeigt: Eine Form ist fragil. Sie kann vergehen, wertlos werden. Und sie kann kopiert werden. Eine Kopie von Puppy haben sich beispielsweise der Medienmogul Peter Brant und seine Frau, das Supermodel Stephanie Seymour, vor ihrem Anwesen in Connecticut aufstellen lassen.

Puppy hat heute eine subversivere Gestalt, als man damals erahnte, weil Koons hier gleichzeitig den West-Highland-Terrier ironisch ausstellte, den Modehund der 90er Jahre, und damit einen ganzen Zeitgeist. Puppy grinst uns als Gespenst der 90er an, und gerade dadurch kann bei seiner Betrachtung etwas in uns hineinfluten, das Kunst ist. Und da stehen wir vor diesem Monument aus Blumen und sehen vorläufig doch nur uns selbst in unserer Lächerlichkeit und Größe. Großartig!

Und so schiele ich nach Puppy beim Schreiben nicht mehr auf das fertige Ergebnis, sondern auf die Anwesenheit einer künstlerischen Form. Ist sie nicht da, fange ich gar nicht erst an. Ich schreibe mit Stift und Papier und höre auf den Atem meiner Worte. Mehr ist da nicht. Und doch ist da alles drin. Ja, die Form muss mich selbst überzeugen, sonst lohnt sich alles andere nicht.

Doch warte ich ungeduldig auf das Auftreten dieser Form oder führe sie mit schwerem Gerät herbei, kann ich schon aufhören. Ich denke mir lieber ein Spiel aus, bevor ich den ersten Satz zu Papier bringe. In diesem Spiel kann ein Hund eine Rolle spielen oder ein anderes verflucht interessantes Ding. Diese Form spiele ich dann durch, so wie ein Musiker Tonleitern durchspielt. Aristoteles sagte: »Eine Handlung wächst musikalisch durch das Ausdeuten eines Themas.« Klingt etwas trocken, meint aber dasselbe. Seelenbehälter schaffen wie Puppy, das ist die ganz große Kunst.

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