U-Ausschuss zum Neukölln-Komplex: »Gebt endlich die Akten frei«

Rechte Anschlagsserie in Neukölln: Dem Untersuchungsausschuss fehlen wichtige Akten, um Polizeiversagen aufzuklären

»Fragen zum offensichtlichen Versagen der Sicherheitsbehörden bleiben unbeantwortet. Der Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses verspricht mehr Aufklärung, doch wir, die Betroffenen, können diesem Versprechen kaum Glauben schenken«, sagte Ferat Koçak auf einer Kundgebung vor dem Abgeordnetenhaus am vergangenen Freitag. Die Betroffenen des Neukölln-Komplexes, einer jahrelang andauernden Serie rechtsextremer Angriffe gegen Migrant*innen und Antifaschist*innen im Süden Neuköllns, sind unzufrieden mit den bisherigen Erkenntnissen aus dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss.

Am vergangenen Freitag wurden im Ausschuss die derzeitige Berliner Polizeipräsidentin Barbara Slowik und der von 2012 bis 2018 amtierende Polizeipräsident Klaus Kandt befragt. »Die Aussagen lassen sich so zusammenfassen: Ich kann mich nicht erinnern, das ist nie über meinen Schreibtisch gelaufen, ich war nicht zuständig«, sagt Politikwissenschaftlerin Claudia von Gélieu, ebenfalls Betroffene im Neukölln-Komplex, auf der Kundgebung im Anschluss.

Der Untersuchungsausschuss hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Hintergründe zum staatlichen Versagen bei den Ermittlungen zum Neukölln-Komplex aufzuklären. Vasili Franco, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus und Vorsitzender des Untersuchungsausschusses, nennt als eine wichtige Erkenntnis aus der Befragung der Polizeibeamt*innen, dass es sich keinesfalls um wenige Hauptverdächtige handelt. »Es gab zwar einen gefestigten Personenkreis, wo auch immer die gleichen Tatverdächtigen im Fokus standen, aber rechtsextreme Aktivitäten gingen tatsächlich von 100 bis 120 Personen aus, die sich in diesem Umfeld befanden«, so Franco auf der Pressekonferenz zur Ausschussitzung am Freitag.

Außerdem hätte die Polizei schon spätestens seit 2012 gewusst, dass es sich bei den Anschlägen in Neukölln um eine Serie handelt, während dies aber erst viel später öffentlich kommuniziert wurde.

Strukturelle Gründe dafür, warum die Polizeiermittlungen so lange erfolglos blieben, stehen aber auch nach monatelager Befragung von Polizeibeamt*innen durch die Berliner Abgeordneten nicht fest. Zum Beispiel erhärtete sich laut Ausschussmitglied Niklas Schrader, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion, zwar der Verdacht, dass Polizist*innen vor Großeinsätzen Informationen an Tatverdächtige durchgestochen hatten. »Zwei Ermittler haben diesen Verdacht in der Befragung geäußert«, sagt Schrader. So sagte ein Leiter der Ermittlungsgruppe Resin aus, dass sich die Tatverdächtigen während der Großeinsätze immer ausgesprochen unauffällg verhalten hätten, es aber zwischen den Großeinsätzen zu neuen Anschlägen kam. Daraufhin habe man den Kreis der mitwissenden Polizeibeamt*innen verkleinert.

Doch einen solchen Verdacht zu beweisen, sei im Untersuchungsausschuss nur schwer möglich. »Nicht, wenn die sich schlau verhalten haben«, sagt Schrader zu »nd«. Für CDU-Ausschussmitglied Stephan Standfuß bedeutet das: Der Verdacht habe sich nicht bestätigen lassen. Während der Pressekonferenz zum Untersuchungsausschuss am Freitag sieht Standfuß keinen Anlass, von rechten Netzwerken innerhalb der Polizei auszugehen, und schiebt das Ermittlungsversagen auf »Einzelfälle« und »individuelle Fehler«, das eigentliche Problem sei ein Personalmangel bei der Polizei. Claudia von Gélieu zeigt sich auf der Kundgebung wütend über solche Aussagen. »Bestimmten Fraktionen geht es im Ausschuss nur darum, ihre eigenen politischen Ziele voranzubringen: mehr Polizei, mehr Überwachung.«

»Spätestens mit Einsatz verschiedener Sonderermittlungsgruppen ab 2016 kann fehlendes Personal kein Argument mehr sein«, sagt auch Niklas Schrader zu »nd«. Der Innenpolitiker berichtet, dass die Arbeit im Ausschuss durch fehlenden Zugriff auf wichtige Akten erschwert werde. »Den Kernbereich, also die Akten zu den konkreten Taten aus der Anschlagsserie, bekommen wir nicht, weil sie Gegenstand laufender Gerichtsverfahren sind.« Das würden auch die Behörden als Vorwand nutzen, um verknüpfte Akten nicht zur Verfügung zu stellen.

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Ferat Koçak und Claudia von Gélieu sind wütend über diesen Zustand. »Wir brauchen endlich Zugang zu allen sensiblen Akten«, sagt von Gélieu auf der Kundgebung. Koçak kann nicht nachvollziehen, dass auch in seinem eigenen Fall aufgrund des laufenden Verfahrens die Akten für den Untersuchungsausschuss nicht freigegeben würden, obwohl sowohl der »Staatsschutz-Chef« als auch die Polizeipräsidentin diesbezüglich bereits »Versäumnisse der Polizei« eingeräumt hätten. »Es bleibt ein Skandal. Und deshalb fordern wir Betroffene der rechten Anschlagserie in Neukölln: Gebt endlich die Akten frei!«

Für Niklas Schrader zeigt sich außerdem, dass es weiterhin kein konsequentes Vorgehen innerhalb der Polizei gegen Beamt*innen mit rechten oder rassistischen Einstellungen gebe. Als prominentes Beispiel nennt er den Polizisten Stefan K., der auch im Neukölln-Komplex ermittelte. K. griff 2017 außer Dienst als Teil einer Gruppe einen Geflüchteten aus rassistischen Motiven an und verletzte ihn schwer. Vor einem halben Jahr wurde er dafür verurteilt, trotzdem ist K. weiterhin als Polizist im Dienst, denn das Disziplinarverfahren läuft noch. Dem Komplex rechter Netzwerke innerhalb der Polizei und entsprechenden internen Ermittlungsverfahren will sich der Ausschuss laut Schrader noch annehmen.

Auch die Rolle der Berliner Staatsanwaltschaft und des Verfassungsschutzes im Neukölln-Komplex will der Ausschuss noch untersuchen, bis er zum Ende der Legislaturperiode im Herbst 2026 den Abschlussbericht vorlegen muss. Zunächst soll es im Untersuchungsausschuss aber mit den Morden an Burak Bektaş und Luke Holland weitergehen. In beiden Fällen wurde trotz entsprechender Hinweise vom Gericht kein rassistisches beziehungsweise rechtextremes Motiv festgestellt und sie werden dementsprechend noch nicht zur Anschlagsserie hinzugezählt. Das könnte sich eventuell durch die Arbeit des Ausschusses ändern, sagt Schrader.

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