Ein lebenswertes Leben für alle

Domenico Losurdo war von der Zukunft des Kommunismus überzeugt

  • Sabine Kebir
  • Lesedauer: 5 Min.

Dass die kommunistische Bewegung eine Geschichte hat, dürfte unstrittig sein. Aber hat sie auch ein Erbe, das zukunftsträchtig für heutige und künftige Generationen ist? Eine differenzierte Antwort gibt der 2018 verstorbene italienische Philosoph Domenico Losurdo in einem posthum erschienenen und nun auch auf Deutsch vorliegenden Werk.

Der ehemalige Präsident der Internationalen Hegel-Gesellschaft mahnt, dass Linke endlich lernen müssten, Geschichte, Gegenwart und Zukunft nicht von der Warte eigener utopischer Ideale aus zu beurteilen, sondern als zutiefst widersprüchliche Prozesse zu begreifen. Zwar hätten Ideen von der vollständigen Ersetzung der alten Gesellschaft samt ihrem Rechtssystem durch eine angeblich der menschlichen Natur entspringende Ordnung allgemeiner Gerechtigkeit stets am Anfang revolutionärer Aufbrüche gestanden. Nie aber haben sie sich in einem revolutionären Großakt und erst recht nicht makellos durchgesetzt.

Selbst die als Modell für die Etablierung bürgerlicher Demokratie geltenden Ideen der französischen Aufklärung brauchten von 1789 bis 1871, um vollständig institutionalisiert zu werden, und wurden doch den ursprünglichen Erwartungen der Jakobiner nicht gerecht.

Noch gewaltiger ist die auch von Linken heute oft vergessene Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit der US-amerikanischen Revolution, die Demokratie nur für Weiße vorsah, an der Institution der Sklaverei aber festhielt und die aus ihr folgenden Diskriminierungen bis heute nicht überwunden hat. Auch die Geschichte des als völlig gescheitert geltenden osteuropäischen Sozialismus müsse, so Losurdo, zwar kritisch, aber gelöst von utopischen Idealen betrachtet werden. Zumal sie, wie auch die bürgerliche Demokratie, nicht nur Fehlentwicklungen, sondern auch Errungenschaften aufweise.

Der Sowjetunion oder China vorzuwerfen, statt des Kommunismus eine autoritäre Staatswirtschaft errichtet zu haben, beruht auf der utopisch-anarchistischen Idee, dass unterentwickelte beziehungsweise kriegszerstörte Länder von einem Tag auf den anderen eine ideale basisdemokratische Gesellschaft schaffen könnten.

Schon in früheren Büchern hat Losurdo solche Auffassungen als verbreitete Entwissenschaftlichung des westlichen Marxismus bezeichnet. Sie wurde und wird vertreten von Bewegungen, denen es selbst nicht glückte, eine gerechte Gesellschaft ohne Repressionsapparate zu schaffen, obwohl die Ausgangsbedingungen im Westen viel reifer zu sein schienen. Von der Sowjetunion, China und etlichen Entwicklungsländern wandten sie sich enttäuscht ab, weil sie ihre eigenen Ideale dort beschmutzt und verletzt sahen. Dieser Messianismus verstärkte sich nach 1989 und führte bis zur Unterstützung von imperialistischen Kriegen, die angeblich weltweit Demokratie implementieren wollten.

Losurdo betont, dass auch vor und nach der Oktoberrevolution, ebenso wie in der frühen chinesischen Volksrepublik zunächst utopische Ideen angesteuert wurden wie der Verzicht auf ein solides Rechtssystem, was bis zur Abschaffung der registrierten Ehe gehen konnte. Das Ergebnis war keine fröhliche anarchistische Freiheit, sondern ein Amalgam revolutionärer und subjektivistischer Gewalt.

Diese bringt aber weder eine friedliche Gesellschaft noch neue Wirtschaftsstrukturen hervor. Die Sowjetunion und China konnten sich aus Armut und Unterentwicklung nur herausarbeiten, indem sie utopische Vorstellungen aufgaben und die Gewalt zumindest teilweise durch ein neues Rechtssystem einhegten.

Ob man das Nichterreichen der ökonomischen Ziele bis 1989 verantwortlich macht oder anhaltende strukturpolitische Probleme – die Aneignung der positiven Errungenschaften der bürgerlichen Revolutionen war höchstens in Ansätzen vollzogen. Obwohl individuelle Freiheiten und Rechtsstaat auch in der kapitalistischen Gesellschaft keineswegs gesichert sind, ist das bürgerliche Recht von künftiger linker Politik als Erbe anzusehen, das nicht hinwegzufegen, sondern umzugestalten und weiterzuentwickeln ist.

Wenn Linke das allerdings zum Hauptziel erklären, um sich vom realen Sozialismus abzugrenzen, bleibt das kapitalistische System erhalten. Emanzipationskämpfe müssen aber der Verteidigung und Entwicklung des Sozialstaats die gleiche Dringlichkeit zuschreiben.

Der gewichtigste Vorwurf, den Losurdo westlichen linken Bewegungen vor und nach 1989 macht, ist die Verkennung der Kämpfe gegen koloniale und neokoloniale Ausbeutung. Diese äußert sich in moralisierendem Abscheu vor scheinbar stagnierenden politischen Verhältnissen in Entwicklungsländern bis zur Rechtfertigung von Sanktionen. Verdrängt wird, dass der Westen seine Demokratien und Sozialstaaten nur dank Ausbeutung dieser Länder schuf, dort aber unerbittliche Diktaturen errichtete, die zerstörte Gesellschaften hinterließen, wie es Russland und China einst waren.

Hier bringt Losurdo den Begriff der Nation gegen einen im westlichen linken Milieu verbreiteten Kosmopolitismus ins Spiel, der alle Grenzen niederreißen will. Völker könnten sich aber nur gegen Neokolonialismus verteidigen, wenn sie sich zu sozialstaatlichen Nationen formieren. Auch heute dürfen Entwicklungsländer nicht nur nach ihrem aktuellen politischen System beurteilt werden, sondern danach, ob sie trotz ständiger neokolonialer Einmischung versuchen, einen alle einbeziehenden Emanzipationsprozess in Gang zu setzen.

Gerade auch im Interesse der Entwicklungsländer wendet sich Losurdo gegen das Wiederaufleben von Technikfeindlichkeit in den Umweltbewegungen. Nicht neue Bescheidenheit sei im Ringen um die Bewohnbarkeit der Erde angesagt, sondern der Kampf gegen ihre Vernutzung durch private Kapitalinteressen.

Hier konnten nur Grundlinien von Losurdos letztem Werk skizziert werden. Es enthält jede Menge verblüffende Zitate, die neues Licht auf die marxistische Tradition, aber auch auf neuere, als links geltende Theoretiker werfen wie Slavoj Žižek, Michael Hardt, Antonio Negri, Norberto Bobbio und andere.

Eine widerspruchsfreie, ohne Regeln funktionierende Gesellschaft wird es nie geben. Aber ein lebenswertes Leben ist für alle Menschen möglich.

Domenico Losurdo: Der Kommunismus. Geschichte, Erbe und Zukunft. Papyrossa,
258 S., br., 24 €.

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