Kontinuität und Konkurrenz

Die biografischen Miniaturen von Wladislaw Hedeler über zwei führende Bolschewiki: Lenin und Stalin

  • Werner Abel
  • Lesedauer: 6 Min.

Ende der 40er Jahre des vergangenen Jahrhunderts fragte der Historiker Wolfgang Leonhard den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, Josip Broz Tito, ob durch das, was über die Folgen des Stalinismus in der Sowjetunion bekannt geworden sei, nicht auch die Theorie der Diktatur des Proletariats in Misskredit geraten wäre. Tito antwortete, er sei Generalsekretär der Partei, aber nicht für Theorie zuständig. Mit seiner Frage müsse sich Leonhard daher an Moša Pijade, den damaligen Cheftheoretiker der KPJ, wenden.

Eine solche Bescheidenheit wäre vom Generalsekretär einer weit größeren kommunistischen Partei, nämlich der sowjetischen, nicht zu erwarten gewesen. Denn Josef Dschugaschwili, der sich den Namen »Stalin«, der »Stählerne« gab, ließ sich nicht nur »Vater und Führer der Werktätigen«, sondern auch »Koryphäe der Wissenschaften« nennen. Dabei war der listige und verschlagene ehemalige Priesterseminarist, der »prächtige Georgier«, wie ihn Lenin einst nannte, bevor er, entsetzt über dessen Brutalität den Vorschlag machte, ihn von der Funktion des Generalsekretärs abzulösen, bei weitem kein Theoretiker. Die beiden einzigen Theorien, die jener sich ausgedacht hatte, war die vom »Sozialismus in einem Land« und die von der »Verschärfung des Klassenkampfes beim erfolgreichen Aufbau des Sozialismus«. Alles andere übernahm er von zeitweiligen Gefährten und Widersachern, den »Leninismus« als Legitimationsideologie zum Beispiel von Grigori Sinowjew, den er später ermorden ließ. Und um die von Lenin initiierte Neue Ökonomische Politik (NÖP) zu beenden, übernahm er kaltblütig theoretische Ansätze der linken Opposition, von deren Vertretern keiner überlebte.

Gewiss, die Sowjetunion wurde zu Stalins Zeit zu einem mächtigen Industriestaat, aber das wäre wohl auch unter einer bürgerlichen Führung möglich gewesen. Überdies waren sowohl die »Kollektivierung« der Landwirtschaft, die durch die sowjetunionspezifische »ursprüngliche Akkumulation«, nämlich die Trennung des Bauern von seinem Boden, als auch die Schaffung der Industrie, mit Terror durchsetzt. Sie waren also, wie Wladislaw Hedeler es treffend in seiner Stalin-Biografie nennt, eine »Revolution als Verbrechen«. Doch auch als es kaum noch innere Feinde gab, brach der Terror erneut über die Gesellschaft herein und forderte Millionen von Opfern. Um die Repressalien, die schließlich auch die Kampfgefährten Lenins hinwegrafften, zu legitimieren, verkündete Stalin die schon erwähnte Theorie von der Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus. Die Anwendung dieser »Theorie« machte auch vor der Armee nicht halt; Stalin ließ den größten Teil der Armeeführung und des Offizierskorps vernichten. Was die Tatsache begünstigte, dass Hitler, mit dem Stalin 1939 noch einen »Freundschaftspakt« geschlossen hatte, seine Armeen bis Moskau vorstoßen lassen konnte. Aber anstatt Stalin für das Blutbad unter der Armeeführung, den »Genickschuss der Roten Armee«, wie es der Historiker Alexander Nekritsch nannte, zur Rechenschaft zu ziehen, übertrug ihm ein devotes Politbüro die Führung im Kampf gegen die deutsche Invasion. Das Chaos, das er in der ersten Zeit anrichtete, kostete unzähligen Soldaten das Leben. Er aber ließ sich nach dem Sieg über das faschistische Deutschland als »Generalissimus« und großer Feldherr feiern.

Hedeler, bestens vertraut mit der sowjetischen Geschichte und der russischen Sprache, erzählt quasi als Vorspann zu von ihm präsentierten, teilweise selbst übersetzten und nicht so einfach zugängigen Dokumenten, von und über Stalin – kurz und knapp, aber spannend und inhaltsschwer. Berichtet wird über dessen Anfänge als »Revolutionär«, die Teilnahme an terroristischen Aktionen wie Überfällen auf Geldtransporte, um die »Kriegskasse« der Bolschewiki zu füllen, über den brutalen Umgang mit Widersachern, der einige in den Selbstmord stieß, andere vor die Exekutionskommandos des NKWD führte, bis schließlich die führenden Bolschewiki der ersten Stunde ausgelöscht waren. Stalin unterwarf sich nicht nur die Kommunistische Partei der Sowjetunion, sondern auch die der Kommunistischen Internationale angehörenden Parteien. Die Unterwerfung behinderte den Kampf gegen den aufkommenden Faschismus, wie das Beispiel Deutschland zeigte. Trotzki urteilte, Hitler versuche, die Arbeiterbewegung von außen zu zerstören, Stalin gelänge dies aber viel erfolgreicher von innen.

In seinem »Testament« hatte Lenin, damals schon unheilbar krank, vor der unermesslichen Macht gewarnt, die Stalin als Generalsekretär in seinen Händen konzentrieren werde. Mit List, Tücke und Gewalt gelang es Stalin, diese Warnung zu unterdrücken.

War es aber letztlich nicht doch Lenin, der – so der Historiker Wolfgang Ruge – »Stalin die Knute in die Hand drückte«? Diese Frage wird noch immer kontrovers diskutiert, hatte doch bereits Lenin den bolschewistischen Flügel der russischen Sozialdemokratie als eine Partei von »Berufsrevolutionären« formiert. Und auch sein Fraktionsverbot auf dem XX. Parteitag konnte Stalin ausnutzen, als er die Partei, wie er es nannte, zu einem »Schwertträger-Orden« machte. Als Theoretiker wie Praktiker war Lenin seinem Nachfolger um Lichtjahre überlegen. Letzteres zeigte seine Haltung zum erzwungenen Frieden von Brest-Litowsk oder beim Übergang vom Kriegskommunismus zur NÖP, die im Grunde eine von der kommunistischen Partei und dem sozialistischen Staat kontrollierte kapitalistische Entwicklung zuließ, ein Modell also, das viel später die chinesischen Kommunisten mit Erfolg übernahmen.

Hedeler gab seiner Lenin-Biografie, in der auch viele Dokumente von, für und wider Lenin enthalten sind, den Untertitel »Eine Revolution gegen das ›Kapital‹«. Schon im November 1917 hatte der italienische Marxist Antonio Gramsci den durch die Bolschewiki in Russland initiierten und durchgeführten Oktoberumsturz als eine Revolution gegen das »Kapital« charakterisiert und meinte damit, dass hier die wohl gewaltigste Revision der Voraussagen von Karl Marx und Friedrich Engels erfolgt sei. Gramsci hatte dies allerdings eher anerkennend gedacht. Ebenso offensichtlich Georg Lukács, als er 1924 in seinem gleichnamigen Essay Lenin als den wirklichen Vertreter des Marxs’chen Denkens nannte, weil er im Gegensatz selbst zu anderen Bolschewiki um die »Aktualität der Revolution« gewusst habe.

Es ist in der Retrospektive nicht zu übersehen, dass Lenin 1917 trotz früherer Querelen eng mit Trotzki zusammenarbeitete und den von diesem propagierten Begriff der »permanenten Revolution« übernahm, den Parvus Helphand bei Marx entdeckt hatte. »Permanente Revolution« bedeutet nichts anderes, als dass eine demokratische Revolution im Zeitalter des Imperialismus nur gesichert werden könne, wenn sie in die sozialistische überführt werden würde. In der Realität aber blieb dann von den demokratischen Errungenschaften der Februar-Revolution nicht viel übrig. Lenin ließ die Konstituierende Versammlung auseinanderjagen und durch Räte ersetzen, die letztlich diesen Namen nicht verdienten, weil sie sich nach und nach aus Vertretern der herrschenden Partei zusammensetzten und nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen waren.

Marxisten und Marxistinnen der verschiedensten Richtungen, von Karl Kautsky bis Rosa Luxemburg, artikulierten mit unterschiedlicher Begründung ihren Protest gegen die Abschaffung der Demokratie in Sowjetrussland. Die Menschewiki argumentierten, Russland sei nicht reif für den Sozialismus. Nikolai Suchanow, ein menschewistischer Historiker, konnte das noch öffentlich aussprechen. Und obwohl sie in ihrer Breslauer Gefängniszelle über nicht viele Informationen verfügte, sollte Rosa Luxemburgs Kritik an dem von den Bolschewiki eingeschlagenen Weg nach dem Oktober 1917 Prophezeiungen beinhalten, die in den folgenden Jahrzehnten Realität werden sollten. Nur die Morde Stalins an den eigenen Genossen konnte sie nicht voraussehen. Die beiden Biografien von Wladislaw Hedeler erschienen übrigens in dem Verlag, der auch die editorischen Rechte am Werk Rosa Luxemburgs besitzt.

Wladislaw Hedeler (Hg.): Wladimir Iljitsch Lenin oder: Revolution gegen das »Kapital«. Karl Dietz, 176 S., br., 12 €;
Wladislaw Hedeler (Hg.): Josef Stalin oder: Revolution als Verbrechen. Karl Dietz, 160 S., br., 12 €.

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