Chronisch unterversorgt

Die gesundheitliche Betreuung Geflüchteter verschlechtert sich

Nicht einmal einen Monat nach der Veränderung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) gibt es negative Prognosen für den Gesundheitsbereich. Der Zugang zum Gesundheitssystem war für Geflüchtete bisher für bis zu 18 Monate eingeschränkt. Diese Zeitspanne verlängerte die Ampel nun auf 36 Monate. Die tatsächliche Wartezeit dürfte sich laut Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) damit auf über zwei Jahre verdoppeln. Mit negativen Konsequenzen, wie Louise Biddle, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), in ihrem Bericht feststellt.

Der Ausschluss Geflüchteter von Gesundheitsleistungen wirkt sich dabei gleich in mehrfacher Hinsicht negativ aus: erstens auf die Gesundheit der Patient*innen und ihre soziale Teilhabe, zweitens auf den Aufwand und die Autonomie der Ärzt*innen und drittens auf den Staatshaushalt. Dabei waren die Einsparungen durch den eingeschränkten Zugang zu Sozialleistungen ein Hauptargument für die Änderung des Gesetzes. Zumindest im Gesundheitsbereich wird sich diese Hoffnung der Ampel nicht erfüllen.

Solange Geflüchtete dem Asylgesetz unterworfen sind, haben sie nur bei vier festgeschriebenen Indikationen Zugang zum deutschen Gesundheitssystem: bei akuten Erkrankungen, bei Schwangerschaft, für Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen. »Das schränkt den Zugang für Menschen mit chronischen Erkrankungen, sowohl physischen als auch psychischen, ein«, erklärt Biddle. Derlei Aspekte werden nicht in einem Stadium angegangen, in dem sie leicht bearbeitet werden können. Erst wenn die Erkrankungen akut sind und aufwendige Diagnoseverfahren oder langfristige Krankenhausaufenthalte erfordern, werden sie behandelt. »Die Kostenrechnung geht langfristig nicht auf«, so Biddle. »Deshalb wäre es sinnvoller gewesen, die Dauer der Einschränkungen zu verkürzen, statt zu verlängern.«

Die Bürokratie erschwert die Situation für Geflüchtete noch weiter. In vielen Bundesländern müssen sie vor jeder ärztlichen Untersuchung beim Sozialamt einen Behandlungsschein anfragen. »Das führt zu längeren Wartezeiten und Unsicherheiten«, führt Biddle weiter aus. Auch aufseiten der Ärzt*innen, denn viele seien nicht mit dem Behandlungsschein vertraut.

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Die Bundesärztekammer bemängele außerdem seit Jahren, dass dieses System die medizinische Entscheidungsfreiheit einschränke. »Vereinfachen könnte die Situation eine bundesweite elektronische Gesundheitskarte für Geflüchtete«, sagt Biddle. Bisher gibt es sie flächendeckend in Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Thüringen und Schleswig-Holstein. Dort sind die jeweiligen Leistungen der Chipkarte auf Landesebene definiert. Geflüchtete können so direkt Ärzt*innen aufsuchen, ohne eine bürokratische Zwischenstelle. Die elektronische Gesundheitskarte baue Hürden ab, bilde Vertrauen und senke Verwaltungskosten.

Nicht nur im Gesundheitsbereich werden Geflüchtete unzureichend unterstützt, auch bei der Suche nach Schulplätzen, Ausbildungs- oder Weiterbildungsangeboten sowie bei Asylfragen gibt es laut Betroffenen Aufholbedarf. Das stellt Ellen Heidinger, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIW, fest. Schutzsuchende ohne Abschluss oder Berufserfahrung erhalten seltener Hilfe. Der selektive Zugang schließe außerdem vor allem Frauen und Minderjährige von den Unterstützungsstrukturen aus. »Wir müssen den Zugang zu den vorhandenen Angeboten flächendeckender und niederschwelliger kommunizieren«, schlussfolgert Heidinger daraus.

Wenig Auskunft geben Geflüchtete zu negativen Erfahrungen auf den Fluchtwegen, so Cornelia Kristen, Professorin für Soziologie an der Universität Bamberg. 47 Prozent der Befragten des SOEP wollen nicht darüber sprechen. Auch das mache es schwierig, Geflüchtete nach ihrer Ankunft angemessen zu unterstützen, meint Kristen. In den vergangenen zehn Jahren nahm jede vierte Person auf dem Weg in die EU die zentrale Mittelmeerroute. Sie ist global gesehen die gefährlichste, auch weil sie die längste Strecke ist.

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