Duisburg: Taskforce gegen Arme

Ein Duisburger Modell droht zum Vorbild im Kampf gegen angeblichen Sozialmissbrauch zu werden

Die »Taskfrorce Problemimmobilie« im Einsatz in Duisburg
Die »Taskfrorce Problemimmobilie« im Einsatz in Duisburg

Gibt man das Stichwort »Sozialbetrug« in eine der bekannten Suchmaschinen ein, so schlägt diese automatisch folgende Anfragen vor: »Sozialbetrug melden«, »Sozialbetrug melden anonym«, »Sozialbetrug melden Bürgergeld« und »Sozialbetrug melden Telefonnummer«. Keine Frage, die politische Agitation zum sogenannten »groß angelegten Sozialleistungsmissbrauch« schlägt Wellen, auch wenn Statistiken diesen nicht nachweisen können. Bisher bleibt das Reformpapier der Bundesregierung zum Bürgergeld zu jenem Thema vage. Wie Maßnahmen von Schwarz-Rot dahingehend aussehen könnten, zeichnete sich jedoch diese Woche in Duisburg, NRW, ab.

Eben dort lud Arbeitsministerin Bärbel Bas am Montag zu einer Fachkonferenz der Kommunen. Um Probleme und Lösungen im Zusammenhang mit Zuwanderung aus EU-Staaten sollte es gehen. Als Ergebnis verkündete Bas, selbst Duisburgerin: Sie wolle die Vernetzung der Behörden zur Bekämpfung des sogenannten »Sozialmissbrauchs« stärken – soll heißen, mehr Datenaustausch zwischen Ordnungsämtern, Polizei und Jobcentern –, die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus EU-Ländern diskutieren und »Sozialmissbrauch« als Tatbestand ins Strafgesetzbuch aufnehmen.

Wie das konkret aussehen solle, dazu wolle man den Gesprächen der zuständigen Ressorts nicht vorgreifen, heißt es aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gegenüber dem »nd«. Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels sollen sich »Leute in Europa frei bewegen«, so Bas. Die Maßnahmen würden aber den Sozialleistungsmissbrauch von Rumän*innen und Bulgar*innen reduzieren, der gerade im Ruhrgebiet ein so großes Thema sei.

»Die Assoziierung von EU-Migrant*innen mit Sozialleistungsmissbrauch entfacht rassistische Konflikte, die das Leben von Migrant*innen unmittelbar gefährden.«

Migrantische Selbstorganisation Stolipinovo in Europa

Dass die neuen Vorstöße aus Duisburg kommen, ist nicht überraschend. Dort verkündete SPD-Oberbürgermeister Sören Link schon 2015: »Ich hätte gerne das Doppelte an Syrern, wenn ich dafür ein paar Osteuropäer abgeben könnte«. Seine Aussage reiht sich ein in eine Debatte rund um die Zuwanderung aus EU-Staaten, die im Zuge der EU-Osterweiterung an Fahrt aufnahm. Die Erzählung: Arme Menschen, vorwiegend aus Rumänien und Bulgarien, würden durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit massenweise nach Deutschland einreisen und das Sozialsystem ausnehmen. Schon 2016 erklärte die Vertretung des EU-Gerichtshofes, es handle sich dabei um eine »Legende«, die nicht statistisch belegbar sei: »Mobile Arbeitnehmer in der EU tragen aktiv zum wirtschaftlichen und sozialen Wohlergehen des Landes bei, in dem sie leben.«

Dennoch beschloss Deutschland im selben Jahr den Ausschluss aus Sozialleistungen für Unionsbürger*innen ohne Bezug zum Erwerbsleben. Die Folgen zeigen sich heute zum Beispiel in den Notunterkünften, sagte Joachim Krauß von der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe dem »nd«. Verwaltungen gingen seitdem davon aus, dass EU-Zugewanderten keine Leistungen zustünden, Kommunen würden deshalb mitunter nicht einmal ordnungsrechtliche Unterbringungen gewähren. »Und das aufgrund eines Schreckensszenarios, das nie der Realität entsprach.«

Ein Blick auf die Fakten: Von drei Millionen Pol*innen, Bulgar*innen und Rumän*innen, jenen Ländern mit der höchsten Einwanderungsquote aus EU-Ländern, sind heute über 60 Prozent, unter Rumän*innen über 70 Prozent erwerbstätig. »Das sind hauptsächlich junge Menschen, die in das Sozialsystem einzahlen«, erklärt Krauß. Bundesweit dokumentierten die Jobcenter 2024 indes 421 Fälle von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch, teilt das BMAS dem »nd« mit. Die Dunkelziffer sei höher, eine Differenzierung nach Staatsangehörigkeiten nicht möglich. In NRW werden laut WDR zwei Drittel der Sozialbetrugsfälle von Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft begangen. Menschen aus Rumänien und Bulgarien machen nur rund 5,6 Prozent der Tatverdächtigen aus.

Der migrantischen Selbstorganisation »Stolipinovo in Europa« zufolge verfolgt Duisburg seit »über einem Jahrzehnt eine der repressivsten migrationspolitischen Strategien Deutschlands, die sich gezielt gegen die Wohnsituation, den Alltag und die Behördenkontakte von Migrant*innen richtet«. Der Verein setzt sich für die Rechte von Migrant*innen aus Osteuropa ein und machte im Vorfeld der montäglichen Konferenz in einem offenen Brief auf die Maßnahmen zum Thema Sozialleistungsmissbrauch der Stadt aufmerksam.

Seit 2014 geht Duisburg mit einer eigenen Taskforce gegen »Armutsmigration« und sogenannte »Problemimmobilien« vor. Die Taskforce setzt sich aus Ordnungsamt, Polizei, Feuerwehr, Jobcenter und Familienkasse zusammen. Sie erwirkt mithilfe der Brandschutzordnung »Unbewohnbarkeitserklärungen«, die es ermöglichen, Häuser innerhalb weniger Stunden zu räumen. Zwangsgeräumt wurden seither über 200 Gebäude und damit mehr als 5000 Menschen, darunter viele Familien. Die größte Gruppe bilden Zugezogene aus Rumänien und Bulgarien, zumeist gehören sie der Minderheit der Rom*nja an oder werden ihnen zugerechnet.

»Die überzogene und mit Fakten nicht rechtfertigbare Assoziierung von EU-Migrant*innen mit Sozialleistungsmissbrauch schürt fremdenfeindliche Einstellungen und entfacht rassistische Spannungen und Konflikte, die das Leben von Migrant*innen unmittelbar gefährden«, kritisiert Stolipinovo in Europa. Darüber hinaus trage der Diskurs zur Normalisierung diskriminierender Rhetorik und Praktiken in öffentlichen Institutionen bei. Eine Untersuchung der Universität Duisburg-Essen ergab 2024, dass die Prekarität von EU-Migrant*innen auch durch lokale Behörden erzeugt werde.

Das NRW-Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung rief indes 2018 die Projektgruppe »Strategieaustausch zur Zuwanderung aus Südosteuropa« ins Leben. »Wir brauchen klare und konsequente Regeln, damit die europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht länger Einfallstor für Missbrauch bleibt. Wer einmal im Sozialsystem ist, den bekommt man eben nur schwer wieder heraus«, so ein Ministeriumssprecher gegenüber dem »nd«. »Während andere reden, handeln wir in Nordrhein-Westfalen«.

Zu den Maßnahmen gehören regelmäßige Kontrollaktionen und Änderungen in Landesgesetzen. Ein »besonderes Beispiel für konsequentes Handeln« sei die »Zukunftspartnerschaft des Ministeriums« mit der Stadt Gelsenkirchen: »Bis zu 3000 Schlechtwohnungen sollen vom Markt verschwinden und stehen somit für Vermietungen an Armutszuwanderer nicht mehr zur Verfügung. Das Land hat hierfür bislang aus eigenen Mitteln 30 Millionen Euro bereitgestellt.« Auf die Vorwürfe von Stolipinovo in Europa geht das Presseteam des Ministeriums nicht ein.

Nur eine dreiviertel Autostunde entfernt gibt es in Dortmund ein Koordinierungsprogramm mit Vor- und Nachsorgekonzepten mit dem Ziel, zugezogene Personen durch Beratung und Begleitung möglichst langfristig zu integrieren. Das Konzept funktioniere, fände sich in der öffentlichen Debatte aber nur selten wieder, beklagt Krauß. Er befürchtet einen »Schulterschluss politischer Agitation«.

»Das BMAS begrüßt grundsätzlich die Initiativen auf Ebene der Länder und Kommunen, die zum Ziel haben, durch eine bessere Vernetzung der Behörden Sozialleistungsmissbrauch zu bekämpfen«, antwortete indes ein Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales dem »nd«. Die Erfahrungen aus der Tagung in Duisburg werde das BMAS »auch in die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen auf Bundesebene einfließen lassen«.

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