Attentat in Moskau: Von Islamismus keine Spur

Russlands Regierung beharrt darauf, dass die Moskauer Attentäter nicht zum Islamischen Staat gehören

  • Daniel Säwert
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Gesichter sind schwer gezeichnet, Blutergüsse, Schwellungen, Schürf- und Platzwunden gut sichtbar. Einer ist offensichtlich nicht mehr in der Lage zu laufen und wurde in einem Krankenstuhl in den Gerichtssaal gebracht. Am Sonntagabend hat ein Moskauer Bezirksgericht vier Verdächtige des Terroranschlags vom Freitag mit mindestens 137 Toten für zwei Monate in Gewahrsam genommen. Zwei der Angeklagten räumten ihre Schuld ein. Noch am Sonnabend hatte der Inlandsgeheimdienst FSB von elf Festgenommenen berichtet. Drei davon, ein Mann mit seinen beiden Söhnen, wurden am Montag den Richtern vorgeführt. Dem Vater soll den Attentätern das Auto verkauft haben, mit dem sie unterwegs waren. Über die restlichen Verdächtigen ist bisher nichts bekannt.

Vor dem Gerichtstermin waren im Netz Videoaufnahmen verbreitet worden, die zeigen sollen, dass die Verdächtigen gefoltert wurden. Einem Mann soll ein Ohr abgeschnitten worden sein, ein anderer soll mit Stromstößen an seinem Hoden zur Aussage gezwungen worden sein. Ob die Aufnahmen authentisch sind, ließ sich zunächst nicht unabhängig überprüfen. Doch russische Sicherheitskräfte sind nicht für ihren sorgsamen Umgang mit Gefangenen bekannt, vor allem nicht mit Terroristen. Auf den Foltervorwurf angesprochen, entgegnete Kremlsprecher Dmitri Peskow am Montag: »Ich lasse diese Frage unbeantwortet.«

Medwedew fordert Todesstrafe

Drei Tage nach dem größten Terroranschlag in Russlands Haupstadt seit 20 Jahren herrscht ein rauher Tonfall in der Politik, wo Hardliner reflexartig die Wiedereinführung der Todesstrafe diskutieren. Auf Telegram forderte der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, in gewohnt scharfer Form den Tod der mutmaßlichen Täter. »Muss man sie umbringen? Muss man. Und es wird so kommen«, schrieb Medwedew am Montag. Auch andere Hardliner der Politik brachten die Aufhebung des Moratoriums der Todesstrafe von 1997 ins Spiel. Während sich der Kreml, wie Sprecher Peskow betonte, aus der Diskussion heraushalte, verwies Senator Andrej Klischas auf das damalige Urteil des Verfassungsgerichts, das man nicht einfach übergehen könne.

Unter den Millionen Arbeitsmigranten schürt der Terroranschlag Befürchtungen über zunehmende staatliche Repressionen und Vergeltungstaten. Bereits kurz nach der Tat hatte die Polizei in der Moskauer Metro gezielt Menschen aus Zentralasien kontrolliert und Razzien in Wohnheimen von Arbeitsmigranten durchgeführt. Auch in anderen Städten wurden Menschen aus Zentralasien massiv auf der Straße überprüft. Die tadschikische Community empfiehlt ihren Landsleuten, sich von Menschenansammlungen fernzuhalten und nach Einbruch der Dunkelheit möglichst nicht mehr auf die Straße zu gehen. Kirgistans Außenministerium rät von Reisen nach Russland ab.

Westen hatte vor Anschlag gewarnt

Unterdessen bleiben noch viele Fragen offen, wie es zu dem Terrorangriff und so vielen Toten kommen konnte. Kremlsprecher Peskow warf dem Westen erneut vor, nicht ausreichend vor dem Anschlag gewarnt zu haben. Aufgrund der internationalen Spannungen würde es keinerlei Zusammenarbeit mehr geben, so Peskow. Mehrere Botschaften hatten zuvor zum 8. März ihre Landsleute vor einem möglichen Anschlag gewarnt.

Laut dem Zentrum Dossier wussten die russischen Geheimdienste jedoch über den geplanten Anschlag Bescheid. Sie hätten die Terrorgruppierung Islamischer Staat-Provinz Khorasan (ISPK) beobachtet und wenige Tage vor der Tat die Mitglieder des Sicherheitsrates gewarnt, schrieb das von Kreml-Gegner Michail Chodorkowski finanzierte Projekt am Sonnabend.

Obwohl die Terrororganisation Islamischer Staat sich zu dem Anschlag bekannte und auch die USA auf die Täterschaft der Radikalislamisten hinweisen, will das offizielle Moskau bisher nichts davon wissen. Der Kreml kündigte zwar an, dass Präsident Wladimir Putin am Montag über weitere Maßnahmen beraten werde, hielt aber auch an seiner Nichtanschuldigung der Islamisten fest. »Die Untersuchung läuft, noch wurde keine handfeste Version verlautbart«, erklärte Peskow.

Zweifel an Brandschutz und Sicherheitskräften

Auch der Orientalist Ruslan Suleymanov hegt Zweifel an der Version der Islamisten. Der ISPK sei bisher eine ziemlich erfolglose Gruppierung gewesen, die vor allem außerhalb Afghanistans, wo er gegen die Taliban kämpft, nicht in Erscheinung getreten ist. Solch ein Anschlag in Russland sei daher ein erstaunlich großer Schritt, äußerte sich Suleymanov in mehreren Interviews. Auch die 500 000 Rubel (5000 Euro), die den Männern versprochen worden seien, passen nicht ins Bild islamistischer Attentäter, gibt der Experte zu bedenken.

Nebem dem merkwürdigen Verhalten der Attentäter, die sich bei ihrer Flucht nicht wie gut ausgebildete Kämpfer präsentieren, geraten auch die Sicherheitskräfte und der Veranstaltungsort in die Kritik. Die Spezialeinheiten seien ungwöhnlich spät eingetroffen, schreiben russische Medien. Zudem hätten die Sicherheitsleute am Veranstaltungsort zwar Waffen gehabt, diese seien aber in einem Schrank verschlossen gewesen. Augenzeugen berichten zudem von mindestens vier Fluchtwegen, die verschlossen gewesen seien, sodass die Besucher durch den Haupteingang nach draußen gelangen mussten. Der Leiter des Staatlichen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, hat bereits Untersuchungen eingeleitet, ob der Konzertsaal gegen Sicherheitsanforderungen verstoßen hat.

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