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»Die Sprache des Kapitalismus«: Macht der schwarzen Null

Ein Kulturwissenschaftler und ein Ökonom sezieren die »Sprache des Kapitalismus« und untersuchen, wie diese bestehende Herrschaft stützt

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 5 Min.
Kapitalismus zum Mitmachen: Für den Abschied von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble 2017 bildeten die Beschäftigten des Ministeriums eine menschliche »schwarze Null«.
Kapitalismus zum Mitmachen: Für den Abschied von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble 2017 bildeten die Beschäftigten des Ministeriums eine menschliche »schwarze Null«.

Mit Begriffen wurde schon immer Politik gemacht, sie schaffen Realitäten und festigen Machtstrukturen. Von »Reform« sprachen SPD-Kanzler Gerhard Schröder und sein Arbeitsminister Franz Müntefering, als sie kurz nach der Jahrtausendwende mit der Agenda 2010 auf einen neoliberalen Kurs einschwenkten und den drastischsten Sozialabbau der deutschen Nachkriegsgeschichte durchsetzten. Sie nutzten dabei einen sprachlichen Terminus, den ihr sozialdemokratischer Parteifreund Willy Brandt einst ganz anders verwendet hatte: als eine positiv besetzte Beschreibung für gesellschaftliche und emanzipatorische Veränderung.

Ein Jahrzehnt danach berief sich der damalige CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble auf die »Schwäbische Hausfrau«. Mit dieser Floskel wollte er seinen rigiden Sparkurs im Bundesetat – und auch seine kompromisslose Haltung im europäischen Streit um die griechischen Staatsfinanzen – legitimieren. Durch das von ihm propagierte Festhalten an der Schuldenbremse, gerne auch »Schwarze Null« genannt, entstand in den Folgejahren ein enormer Investitionsstau in wichtigen Bereichen der öffentlichen Infrastruktur Deutschlands, vor allem im Bildungssystem und im Verkehrssektor.

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Daniel Baumann und Stefan Hebel, zwei Autoren der »Frankfurter Rundschau«, veröffentlichten 2016 ein »Wörterbuch der Irreführung«. In diesem entlarvten sie eine politische Sprache, die von ihren Kolleg*innen im Journalismus häufig kritiklos aufgegriffen werde. Phrasen wie »Eigeninitiative«, »sozial Schwache«, »Wettbewerbsfähigkeit« oder »Bürokratieabbau« waren ihnen Beispiele für Worte mit »sedierender Wirkung«. Wenn sich ein solcher Begriff erst einmal etabliert habe, so Baumann und Hebel, präge er »fortan unsere Wahrnehmung der Welt – ob der Deutungsrahmen selbst überhaupt stimmt, wird dann nur noch selten hinterfragt«.

Rettungsschirm und Gratismentalität

An diese Analysen knüpft das gerade erschienene Buch »Die Sprache des Kapitalismus« an. Verfasst haben es der Freiburger Literaturwissenschaftler Simon Sahner und der Frankfurter Ökonom Daniel Stähr. Die Autoren lernten sich über die Mitarbeit beim Online-Magazin »54books« kennen. In der Kooperation ihrer beiden Fachdisziplinen liegt der besondere Reiz dieser neuen Veröffentlichung. Denn nur wenige Wirtschaftswissenschaftler*innen hinterfragen die von ihnen verwendete, meist von einer einseitigen Weltanschauung geprägte Sprache. Umgekehrt interessieren sich Feuilletonist*innen oft nicht allzu sehr für handfeste ökonomische Zusammenhänge.

Was steckt hinter Floskeln wie »Rettungsschirm«, »Gratismentalität«, »Technologieoffenheit« oder »kranker Mann Europas«? Wieso sind in finanzielle Schieflage geratene Banken oder Versicherungen angeblich »too big to fail« und müssen daher auf Kosten der Steuerzahler*innen gerettet werden? Gibt es sie überhaupt, die »unsichtbare Hand des Marktes«, von der schon der Vater der heutigen Volkswirtschaftslehre, der schottische Ökonom Adam Smith, im 18. Jahrhundert schrieb? Seine Formulierung griffen die marktradikalen »Chicago Boys« um Milton Friedman auf. In der chilenischen Militärdiktatur unter Augusto Pinochet setzten sie ihre Ideologie ab Mitte der 1970er Jahre erstmals in die Praxis um. Nur wenig später folgten diesem neoliberalen Kurs auch Großbritannien unter Margaret Thatcher und die USA unter Ronald Reagan.

Was bedeutet es, wenn Menschen davon sprechen, Geld zu »verdienen« oder es anderen zu »schulden«? Sind Unternehmen »Arbeitgeber« oder passt diese Beschreibung nicht viel treffender auf die dort Beschäftigen, die irrigerweise als »Arbeitnehmer« bezeichnet werden? Sahner und Stähr interpretieren diese und andere Begriffe als »historisch gewachsene Machtzuschreibung«, abgebildet und manifestiert durch Sprache. Als Gegenmittel fordern sie, die im Alltag meist achtlos verwendeten Phrasen stärker zu reflektieren. Nur so könne man sich aus einer »scheinbaren kapitalistischen Alternativlosigkeit« befreien.

Genie mit Staatshilfe

Das Buch beginnt mit der wirkungsvollen (Selbst-)Erzählung vom erfolgreichen Unternehmergenie, eindringlich repräsentiert durch Steve Jobs. Der früh verstorbene Apple-Chef schaute bei seinen Produktvorstellungen im schwarzen Rollkragenpullover gerne auf seine persönliche Biografie zurück. Offenherzig schilderte er auf der Bühne, dass er sein Studium abgebrochen und vor der Firmengründung seinen Lebensunterhalt mit dem Sammeln von Pfandflaschen bestritten habe. Jobs pflegte bei seinen Auftritten gezielt den Mythos vom amerikanischen Traum, der ihn vom Tellerwäscher zum Milliardär aufstiegen ließ. Ein wichtiges Element solcher Geschichten ist stets die Behauptung, es aus eigener Kraft, ganz ohne Sozialleistungen oder andere finanzielle Unterstützung von außen, nach ganz oben geschafft zu haben.

Die meisten dieser Narrative, so Sahner und Stähr, seien »unvollständig und verbergen Entscheidendes, viele sind schlicht und ergreifend falsch«. Die Technologiegeschichte der von Apple entwickelten Geräte – und hier vor allem des Smartphones – belegt eindeutig, wie sehr das Unternehmen von massiven staatlichen Investitionen in die (ursprünglich meist militärisch motivierte) Grundlagenforschung der Vereinigten Staaten profitiert hat. Nur weil Steve Jobs diesen Fakt nicht erwähnt, kann er sich als scheinbar unabhängiger Selfmademan inszenieren – und bedient so perfekt ein neoliberales Klischee.

Die Autoren plädieren für mehr sprachliche Genauigkeit, sie wollen den »Mustern und Spuren nachgehen, die der Kapitalismus hervorgebracht hat und die ihn gleichzeitig stützen«. Die Art, wie über das Wirtschaftssystem geredet werde, verschleiere die Funktionsweise ökonomischer Prozesse, sie mache Handlungsmöglichkeiten unsichtbar und festige dadurch bestehende Verhältnisse. Das Ergebnis sei, dass »wir unsere eigene Rolle in diesem System falsch einschätzen«. Als Beispiel, »prägnant wie einfach zu verstehen«, erläutern Sahner und Stähr den sprachlichen Umgang mit dem Thema Inflation: Steigen die Preise denn einfach wie von selbst? Oder ist es nicht eher so, dass sie von den Verkäufern der Produkte gezielt erhöht werden? Unsichtbar bleibe stets, dass »jemand die Verantwortung trägt«, dass es »Menschen gibt, die davon profitieren«.

Basis und Überbau

Die kritisierten Begriffe und Narrative, betonen die Verfasser, werden nicht immer bewusst genutzt. Und keineswegs seien sie Teil einer perfiden Verschwörung, von einer geheimen Macht gezielt geplant, um Ahnungslose zu täuschen: »Wir unterstellen nicht allen Personen, die in diesen Mustern kommunizieren, dass sie Verbraucher:innen unwissend halten wollen.« Vielmehr erzählen »wir alle die Geschichten des Kapitalismus und merken es teilweise nicht einmal«.

Sprachliche Verschleierungen zu entlarven sei eine besondere Herausforderung, und »keiner von uns könnte sie ohne den anderen angehen«, bilanzieren Sahner und Stähr ihre »vielleicht ungewöhnliche Zusammenarbeit« zwischen einem Kulturwissenschaftler und einem Ökonomen. Beide Disziplinen würden für sich genommen »nur einen Teil der Schwierigkeiten meistern«. Geisteswissenschaftler versuchen zu erklären, wie »Metaphern funktionieren, warum sie in der zwischenmenschlichen Kommunikation nützlich sind und welche rhetorischen Aufgaben sie erfüllen«. Doch zusätzlich brauche es unbedingt auch das Verständnis von sozioökonomischen Zusammenhängen. Genau in dieser ungewöhnlichen Kombination liegt die Stärke des Buches.

Simon Sahner/Daniel Stähr: Die Sprache des Kapitalismus. S. Fischer 2024, 300 S., geb., 24 €.

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