Bürgergeld und Grundsicherung: Menschenverachtende Sozialpolitik

In den Diskussionen um neue Formen der Grundsicherung bleibt eines konstant: Sozialchauvinismus und die Dämonisierung von Sozialhilfebeziehenden

  • Anne Seeck
  • Lesedauer: 7 Min.
Hier hat wohl jemand seine Chancen nicht genutzt? Die Vorstellung, durch Leistungsbereitschaft alles erreichen zu können, ist integraler Bestandteil des deutschen Sozialchauvinismus.
Hier hat wohl jemand seine Chancen nicht genutzt? Die Vorstellung, durch Leistungsbereitschaft alles erreichen zu können, ist integraler Bestandteil des deutschen Sozialchauvinismus.

Schon vor der Einführung des Bürgergeldes zum 1. Januar 2023 war die öffentliche Hetze gegen die Bezieher*innen enorm. Als dann diese Sozialleistung Anfang 2024 angesichts massiver Teuerung und Inflation erhöht werden sollte, steigerte sich die Stimmungsmache noch. Offensichtlich wurde ein Thema gefunden, mit dem Parteien punkten können. CDU-Chef Friedrich Merz fordert in diesem Zusammenhang einen »Systemwechsel«. Damit zielt er faktisch darauf ab, das Bürgergeld in der jetzigen Form abzuschaffen.

Am 18. März 2024 stellte die CDU deshalb ein fünfseitiges Papier zur »Neuen Grundsicherung« vor. Darin fordert sie eine Namensänderung, da der Begriff »Bürgergeld« ein »Ausdruck des politischen Konzepts eines bedingungslosen Grundeinkommens« sei. Das ist natürlich Unsinn, denn das aktuelle Bürgergeld ist nicht viel besser als die alte Hartz-IV-Variante – nur das ramponierte Hartz-Image wandelte sich mit der Namensänderung.

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Der aktuelle Regelsatz des Bürgergelds ist mit 563 Euro für alleinstehende Erwachsene immer noch viel zu niedrig. Wie der Forderung des Paritätischen Gesamtverbandes zu entnehmen ist, bräuchte es eigentlich 813 Euro für Alleinstehende. Die Ampel verabschiedete zudem ein Gesetz, das eine Totalsanktionierung bis zu zwei Monaten für jene Menschen vorsieht, die sich »nachhaltig« weigern, einen Job anzunehmen. Die Kosten für Unterkunft und Heizung werden zwar weiterbezahlt, aber die Ausgabe von Lebensmittelgutscheinen ist nicht mehr vorgesehen.

»Neue Grundsicherung« der CDU

Diese Bedingungen will die CDU nun noch weiter verschärfen. In ihrem Papier zur »Neuen Grundsicherung« schreiben sie, dass bei arbeitsfähigen Grundsicherungsbezieher*innen, die »ohne sachlichen Grund« eine zumutbare Arbeit ablehnen, davon ausgegangen werden müsse, dass diese nicht »bedürftig« seien. Ein Anspruch auf Grundsicherung bestehe bei diesen »Totalverweigerern« nicht mehr. Wer mehr als einmal zu Terminen nicht erscheine, solle keine Leistungen erhalten. Wenn es drei Monate keinen Kontakt zum Jobcenter gegeben habe, liege keine »Hilfsbedürftigkeit« mehr vor.

Falls diese Pläne unter einer künftigen CDU-Regierung tatsächlich umgesetzt werden sollten, werden viele Menschen mit gravierenden Folgen zu kämpfen haben – genauer gesagt mit Wohnungslosigkeit bis hin zum Hungern. Aufgrund seiner Erfahrungen mit Einkommensarmen betont Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband, dass sich zahlreiche Bürgergeldempfänger*innen schon jetzt in einer schlimmen Notsituation befänden, einige seien psychisch krank, andere hätten Suchtprobleme. Sie bräuchten Unterstützung statt existenziellen Druck. Es ist daher vorhersehbar, dass Menschen, die sich in krisenhaften Lebenslagen befinden und nicht »funktionieren« können, wie es von ihnen erwartet wird, Gefahr laufen, aufgrund dieses Drucks in höchste Bedrängnis zu geraten.

Unterstützung erhält die CDU in ihrer menschenverachtenden Sozialpolitik von den Unternehmer*innen: Sie brauchen Niedriglöhner*innen. In der Sendung »Hart aber fair« schickte zum Beispiel der Lobbyverband »Die Familienunternehmer« seine Präsidentin und Chefin von 200 Angestellten vor, um die Interessen ihrer oftmals reichen Klientel zu vertreten. Im Präsidium der »Familienunternehmer« sitzen Vertreter*innen von Henkel, Dr. Oetker, Miele und Deichmann, global tätige Unternehmen mit Milliardenumsätzen.

Das Bürgergeld wird ab Beginn dieses Jahres für Alleinstehende um 61 Euro erhöht, was jedoch nur einen geringen Inflationsausgleich darstellt. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann meint, die »Gerechtigkeitslücke« müsse geschlossen werden, mit der seit jeher das Lohnabstandsgebot begründet wird: Bürgergeldbezieher*innen hätten demnach mehr Geld in der Tasche als viele Menschen im Niedriglohnsektor. Millionär Friedrich Merz erregte sich: »Diejenigen, die arbeiten, müssen netto mehr in der Tasche haben als die, die soziale Transferleistungen bekommen.« Finanzminister Christian Lindner von der FDP ließ verlauten, die Kassiererin im Supermarkt dürfe »niemals den Eindruck gewinnen, dass sie arbeitet und andere das Gleiche oder sogar mehr erhalten, wenn sie nicht arbeiten. Arbeit muss sich lohnen«.

Das sind Fake News, denn wer lohnarbeitet, bekommt hierzulande ohnehin mehr Geld als Bürgergeld-Bezieher*innen, weil Lohnarbeit durch Bürgergeld, Wohngeld oder Kindergeldzuschlag aufgestockt werden kann. Nicht das Bürgergeld, sondern die geringen Löhne sind also das Problem. Mehr als 800 000 Menschen sind Aufstocker*innen, weil sie so wenig verdienen, dass sie ergänzend Bürgergeld benötigen, um überleben zu können.

Die Politik schürt den Neid mit Einzelfällen, in denen bestimmte Einkommensgrenzen für Bürgergeld, Wohngeld oder Kinderzuschlag knapp überschritten werden. Studien schätzen zudem, dass 60 Prozent aller Rentner*innen, ein Drittel aller Anspruchsberechtigten des Bürgergeldes und zwei Drittel derjenigen, die einen Kinderzuschlag erhalten können, von selbst ganz auf diese Sozialleistungen verzichten. Auch aufgrund der Hetzkampagne trauen sich viele Menschen schlicht nicht, die Gelder zu beantragen.

Besonders dreist ist die in den Beispielen vonseiten der CDU vorgenommene Spaltung der Armutsbevölkerung in »arbeitsunfähige« und »arbeitsunwillige« Betroffene. Das größte Feindbild sind dabei die »Arbeitsverweigerer«. So forderte etwa der Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) eine 25-prozentige schrittweise Sanktionierung für Arbeitsverweigerung. Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) denunzierte Bürgergeldbezieher*innen als »Taugenichtse«: Ein Taugenichts sei »einer, der auf Kosten der anderen lebt, obwohl er anders könnte«. Jens Spahn (CDU) plädierte gar für eine Verfassungsänderung, »wenn hier eine generelle Streichung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gedeckt ist«.

Hetzfigur »Totalverweigerer«

Die Wortschöpfung »Totalverweigerer« wird gerade propagandistisch in die Köpfe eingepflanzt. Im Jahre 2023 gab es laut Bundesagentur für Arbeit bundesweit gerade mal 13 838 Fälle, in denen Menschen eine angebotene Arbeit ablehnten. Das ist eine geringe Minderheit – wenn man sich überhaupt auf diese Logik einlässt. Das wirkliche Problem ist doch: Absolut jede Arbeit gilt hier als zumutbar, egal wie niedrig die Löhne und wie schlecht die Arbeitsbedingungen sind. Und gehetzt wird allemal gegen alle Menschen im Bürgergeld-System.

Dabei stehen viele von den etwa 5,5 Millionen Betroffenen dem Arbeitsmarkt aus ganz anderen Gründen nicht zur Verfügung: wegen ihres jungen Alters oder ihrer schlechten Gesundheit, weil sie Angehörige pflegen, bereits in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen stecken oder weil ihnen keine Betreuung für ihre Kinder zur Verfügung steht. Viele Bürgergeldbezieher*innen sind Alleinerziehende, zumeist Frauen, oder stammen aus dem Niedriglohnsektor, wo das Risiko, entlassen zu werden, besonders groß ist. Sie sind Opfer eines Niedriglohn-Bürgergeld-Drehtür-Effekts. Betroffen sind viele Menschen mit Migrationshintergrund. Einwanderer*innen, die einer Lohnarbeit nachgehen, stellen die Mehrzahl aller sogenannten Hilfsarbeitskräfte; sie sind als Putzkräfte, in der Gastronomie, in Verkehrs- und Logistikberufen, in Hochbau- und Tiefbauberufen, als Fahrzeugführer*innen tätig. Die mediale Hetze und die Politik gegen Bürgergeldbezieher*innen und Migrant*innen, die als »Sündenböcke« für eine falsche politische Entwicklung herhalten müssen, sollten in ihrem Zusammenhang erkannt und gemeinsam bekämpft werden.

Organisiert euch!

Hohe Militärausgaben, »Schuldenbremse«, Fachkräftemangel und gesellschaftlicher Rechtsruck liefern den Kontext für die sozialchauvinistische Hetzkampagne. Viele jener Menschen, die jetzt die Kürzung oder Abschaffung des Bürgergeldes fordern, glauben vermutlich, niemals selbst davon betroffen zu sein. Einige von ihnen werden sich wohl verwundert die Augen reiben, wenn sie doch einmal in die Situation geraten, den Job zu verlieren, als Alleinerziehende klarkommen zu müssen, dauerhaft krank zu werden oder eine viel zu kleine Rente zu beziehen.

Anstatt über die Bürgergeldbezieher*innen herzuziehen, sollte die kritische Öffentlichkeit lieber die Verhältnisse in der kapitalistischen Arbeitswelt in den Fokus nehmen, die viele erschöpft, unzufrieden und mit zu wenig Geld zurücklässt. Nicht zufällig ist die Armutsbevölkerung total erfasst, die Konzentration von Reichtum aber kaum erforscht. Laut Hans-Böckler-Stiftung verfügen rund 3400 der reichsten Haushalte in Deutschland über ein Vermögen von mindestens 1,4 Billionen Euro. Wenn also genug Geld da ist, warum wird es nicht gerecht verteilt?

Am Donnerstag, 18. April, findet um 20 Uhr im Zielona Gora in Berlin-Friedrichshain eine Veranstaltung zu Bürgergeldhetze, den Regelungen beim Bürgergeld sowie deren politischer Einordnung statt. Veranstalter sind die Herausgeber*innen des Sammelbandes »KlassenLos – Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten« (Die Buchmacherei 2023, 256 S., br., 12 €).

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