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Gewerkschaftliches Bauen: Ausverkauf der Berliner Moderne
Von der Gehag zur Deutsche Wohnen: Ein Blick auf die Carl-Legien-Siedlung
Vor 100 Jahren, im April 1924, wurde die Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft (Gehag) gegründet. Mit dem Berliner Wohnungsunternehmen wollten der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB), verschiedene Bauhütten und Arbeitergenossenschaften »gesunde Wohnungen zu angemessenen Preisen für die minderbemittelten Volksklassen« schaffen. Als letzte Siedlung stellte die Gehag 1930 die »Wohnstadt Carl Legien« in Pankow fertig. Der Namensgeber: Carl Legien, bis 1920 Reichstagsabgeordneter der SPD, Mitbegründer der Sozialistischen Internationale und Vorsitzender des ADGB. Die »Wohnstadt Carl Legien« befindet sich seit 2007, wie viele ehemalige Gehag-Siedlungen, im Eigentum der Deutsche Wohnen.
Hatte Bruno Taut in den 1920er Jahren Großsiedlungen »im Grünen« wie die Hufeisensiedlung in Neukölln entworfen, so wurden an der Prenzlauer Allee die Prinzipien des Neuen Bauens erstmals in einem hochverdichteten Innenstadtgebiet umgesetzt. Taut gruppierte Viergeschosser um große Höfe, die sich zur Erich-Weinert-Straße hin öffnen. Farbakzente an Fassaden, Fensterrahmen und Loggien gaben dem massiven Bau eine gewisse Leichtigkeit. Die 1149 zumeist Zwei-Zimmer-Wohnungen mit Balkon oder Loggia, Einbauküche, Bad, Innen-WC und zum Teil Zentralheizung boten einen außergewöhnlichen Komfort.
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Zuschnitt und Einrichtung der Wohnungen waren standardisiert, das ermöglichte preisgünstiges Bauen und war zugleich politisches Programm. »Bataillone von immergleichen Wohnungen, die ganz entkleidet sind von all dem aufgespeicherten leblosen dekorativen Reichtum«, schwebten Baustadtrat Martin Wagner, dem Chefplaner des neuen Berlin vor. Sein Credo: »Ordnung, Disziplin, Gleichheit, Sauberkeit, Wiederholbarkeit widerspiegeln gleichermaßen die Besitzverhältnisse in der Gemeinschaft und die Bedingungen der rationellen Produktionsweise.« Um diese Gleichförmigkeit aufrechtzuerhalten, mussten sich die Mieter*innen einem strengen Reglement unterwerfen. So waren Gardinen und Wäscheleinen verboten und selbst die Farbe der Balkonblumen musste genehmigt werden.
1998, als die Gehag privatisiert wurde, war die Hausordnung das geringste Problem. »Es waren Jahre der Unruhe und Angst«, erinnert sich Gertrud Pannier im Gespräch mit »nd«. Sie wohnte zu jener Zeit schon 20 Jahre in der Siedlung. Die Befürchtungen bestätigten sich 2001, als Modernisierungsvereinbarungen des damaligen Besitzers Baubecon ins Haus flatterten. Intakte Fenster sollten ausgetauscht und Bäder luxussaniert werden. Statt fünf bis sechs Mark sollte der Quadratmeter elf Mark kosten.
Die Bewohner*innen schlossen sich zusammen und wählten einen Mieterbeirat. Gertrud Pannier war von Anfang an dabei, ist es heute noch. Durch die Mobilisierung von Politik und Öffentlichkeit wurde Baubecon gezwungen, von den Plänen Abstand zu nehmen. Dann gab es Informationen, dass die gesamte Anlage verkauft werden sollte. Die Angst vor Umwandlung in Eigentumswohnungen war groß. Der Versuch, die Siedlung einer neu gegründeten Mietergenossenschaft zu übertragen, scheiterte mangels Unterstützung aus der Politik. Die Umwandlung fand nicht statt und in den folgenden Jahren wurde »nur« grundsaniert. 2007 fügte die Deutsche Wohnen das ein Jahr später zum Weltkulturerbe ernannte Schmuckstück seinem Portfolio hinzu.
Für die Mieter*innen begannen typische Deutsche-Wohnen-Jahre. Die Mieten wurden Schritt für Schritt angehoben. Für ihre gut 50 Quadratmeter große Wohnung zahlt Pannier zurzeit rund 600 Euro Warmmiete. Neuvermietet kostet eine Wohnung gleicher Größe 800 bis 900 Euro. Schlechte Kommunikation mit der Hausverwaltung, Schimmel in den Wohnungen und fragwürdige Heizkostenrechnungen sind die üblichen Probleme in den Häusern des Mutterkonzerns Vonovia, mit denen sich der Mieterbeirat herumschlägt, der inzwischen Mitglied im Berliner Netzwerk Mieter*innenprotest Deutsche Wohnen ist.
Seit den 90ern redet der Denkmalschutz bei der Entwicklung der Siedlung mit. Das brachte zusätzliche Konflikte. Von ihrer großen Loggia in der vierten Etage blickt Pannier auf den gepflegten Innenhof. »Zu DDR-Zeiten waren die Fassaden zwar grauer, aber das Erscheinungsbild war bunter. Die Loggien waren verglast, jeder hat gebaut mit dem, was es gab. Es gab Mietergärten und es wuchsen mehr Bäume«, erinnert sie sich. Mittlerweile sind die Verglasungen entsorgt und die offenen Loggien erscheinen in den typischen Taut’schen Farben. Die Mietergärten werden Schritt für Schritt aufgelöst. Die auf der Straßenseite gepflanzten Bäume wurden entfernt, weil sie die »Wirkung der Fassaden reduzieren«. Die Arbeit des Mieterbeirats ist nicht einfacher geworden. Selbst für die Aufstellung von Fahrradbügeln muss mit Bezirk, Denkmalschutz und Deutsche Wohnen verhandelt werden. Um trotz der strengen Weltkulturerbe-Auflagen mehr Grün in den Kiez zu bringen, hat sich eine Bürgerinitiative, der Grüne Carl, gegründet.
Trotz aller Probleme: Die meisten Bewohner*innen leben hier gern. Die Wohnungen haben nach der Grundsanierung einen angemessenen Standard, sie sind klein, aber nicht eng, sie bieten Ruhe, grüne Innenhöfe und die Prenzlauer Allee mit ihren Versorgungseinrichtungen ist nah. Für die meisten Mieter*innen gilt immer noch, was vor Jahrzehnten eine DDR-Ausstellung zur Taut-Siedlung schrieb: »Hier zieht man nicht aus – hier wird man rausgetragen.« Durch die Aufnahme in das Weltkulturerbe sei das Gefühl, in etwas Besonderem zu leben, gewachsen, sagt Pannier. Leider lasse das Bewusstsein über den historischen und baugeschichtlichen Wert bei vielen neuen Mieter*innen nach.
Das ist nicht verwunderlich. Wer die Wohnstadt Carl Legien besucht, muss schon wissen, wo sie anfängt und wo sie aufhört. Nur an der Prenzlauer Allee, Ecke Erich-Weinert-Straße, informiert eine kleine Bronzetafel über den Grundriss der Anlage – kurioserweise vor einem neuen Bürokomplex, der mit der dahinterliegenden Taut-Siedlung nichts zu tun hat. Weder sind die Häuser durch das übliche Unesco-Symbol gekennzeichnet, noch gibt es Informationen zur Bedeutung und Geschichte. Und wer Carl Legien war oder die Gehag, müssen sich Besucher*innen im Internet zusammensuchen.
Lesen Sie am Dienstag, 16. April in »nd.DeTag«: Was kann Berlin von der Gehag lernen?
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